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Radio-Geburtstag

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Mit Geburtstagen bin ich von Kindheit an gewohnt, einige Schwierigkeiten zu haben. Nicht mit dem eigenen. An den gewöhnt man sich. Da gab und gibt es als kulinarischen Trost fürs Älterwerden immer Gefüllte Paprika mit Heurigen und Gurkensalat, das Leibgericht aus der österreichisch-ungarischen Küche. Aber andere Geburtstage haben mir's angetan:

Da gab es in der Familie und deren freundschaftlich verbundenem Umkreis zahlreiche Tanten, Großtanten und Wahltanten, denen man so gerne an ihrem Ehrentag gratuliert hätte, weil Gratulieren etwas Schönes ist, die aber über ihren Geburtstag den Schleier eines großen Geheimnisses legten. Von der Tante Laura und der Tante Anny ahnten nicht einmal die vertrautesten Kenner der Familienchronik, wann sie tatsächlich zur Welt gekommen wären. Freilich munkelte man über ihr Alter, das schon sehr respektabel gewesen sein mußte, und gab sich allerlei Vermutungen hin. Ob diese immer im Sinne der beiden Damen ausfielen, vermag ich nicht zu sagen.

Von der Tante Pauline aber weiß ich, daß sie am konsequentesten das Geheimnis um ihren Geburtstag zu hüten verstand: nämlich noch über das Grab auf dem Neustifter Friedhof hinaus: Dort scheint auf ihrem Grabstein unter dem ihrem Gemahl, dem Herrn General, und dem gefallenen Sohn gewidmeten „Pro Deo et pa-tria" mit Eisernem Kreuz nur ihr Todestag auf. Logisch gefolgert, muß es sich bei dieser Tante also um eine wunderbare Erscheinung gehandelt haben: um einen Menschen, der gestorben ist, ohne geboren worden zu sein.

In diesen Tagen habe ich wieder Schwierigkeiten mit einem Geburtstag: Mit dem Geburtstag des österreichischen Radios. Als begeisterter Liebhaber dieses Mediums, von Detektorszeiten an, möchte ich auch so gerne wieder gratulieren. Aber ich kann es nicht, weil der Geburtstag, der festlich verkündete 1. Oktober, einfach nicht stimmt. Dieser 1. Oktober 1924 ist ein Aprilscherz, denn das Radio erblickte in Österreich schon am 1. April 1923 das Licht der Welt — besser gesagt, es tauchte auf Ätherwellen auf. Ganz genau: auf Welle 600.

Damals — also am 1. April 1923, nicht am 1. Oktober 1924! — nahm die erste österreichische Rundfunkstation, „Radio Hekaphon", ihren Sendebetrieb auf. Sie hatte ihren Sitz im Gebäude der Telegraphenfabrik Czeija, Nissel & Co im zwanzigsten Wiener Gemeindebezirk. Initiator war ein Privatmann, der Ingenieur Koton, dessen Vorname sich nirgends ermitteln ließ, wie der Geburtstag der Tante Pauline.

Der rührige elektronische Medienunternehmer war Techniker, Ansager (Sprecher) und gelegentlieh auch Musikveranstalter, nämlich Pianist, im eigenen Sender. Daß die Privatanstalt schon einen öffentlichen Informationsauftrag — neben dem durch die Klaviervorträge wahrgenommenen Kulturauftrag — erfüllte, bestätigt die Tätsache, daß die erste Radioansprache eines österreichischen Staatsoberhauptes, des Bundespräsidenten Hainisch, von „Radio Hekaphon" anläßlich der Wiener Herbstmesse 1923 — also vor 61 Jahren — übertragen wurde.

Am 1. Oktober 1924 strahlte dann die offizielle RAVAG (Radio Verkehrs-AG) ihre Erstsendung in den österreichischen Äther. Die RAVAG hatte zwar nur ein Studio mit 30 Quadratmetern Fläche, Mikrophone, die nach wenigen Minuten Betrieb heißliefen und von Sprechern und Sängern mittels Mundbeblasung gekühlt werden mußten, aber schon einen „Aufsichtsrat", „Verwaltungsrat" und „Vollbeirat" mit insgesamt 51 Mitgliedern - größ-tenteüs Politiker —, drei Präsidenten und fünf Direktoren. Dennoch sei der RAVAG - nicht dem Radio, denn es ist um ein Jahr älter — zum „Sechziger" von Herzen gratuliert!

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