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Radioaktives Uhrwerk

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In jeder organischen Substanz zerfällt radioaktiver zu gewöhnlichem Kohlenstoff: Ein „Uhrwerk“, das Altersbestimmungen von außerordentlicher Verläßlichkeit ermöglicht.

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In jeder organischen Substanz zerfällt radioaktiver zu gewöhnlichem Kohlenstoff: Ein „Uhrwerk“, das Altersbestimmungen von außerordentlicher Verläßlichkeit ermöglicht.

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Alles spricht plötzlich von der C-14- oder Radiokarbonmethode. Vermutlich ist das wissenschaftliche Verfahren, für dessen Funktionsweise und Verläßlichkeit sich vordem nur Fachleute interessierten — obwohl es beispielsweise die Chronologie der altägyptischen Herrscher teilweise über den Haufen geworfen hat —, nie zuvor auf so breiter Basis diskutiert worden.

Kein Wunder. Chemiker, Botaniker, Raumforscher, Gerichtsmediziner, Kriminologen hatten „La Sindone“, das angebliche Grabtuch Christi, für höchstwahrscheinlich echt gehalten oder zumindest Indizien für dessen Echtheit geliefert. Mehrere SpezialZeitschriften und Jahrbücher befaßten sich ausschließlich mit diesem Gegenstand. Nun aber hat eine verhältnismäßig junge, zugleich aber auch die verläßlichste Methode der Altersbestimmung organischer Substanzen bewiesen, daß das Turiner Grabtuch über tausend Jahre nach der Kreuzigung Christi entstanden sein muß.

Der amerikanische Physiker und Chemiker Williard Frank Libby, der das Verfahren in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte, wurde dafür 1960 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Der 1980 verstorbene Gelehrte analysierte noch persönlich Proben der Leinwandstücke, in denen die berühmten Schriftrollen vom Toten Meer bei der Auffindung verpackt gewesen waren, und ermittelte eine Entstehungszeit zwischen 67 vor und 133 nach Christus.

Die Methode beruht auf dem Umstand, daß unter dem Einfluß der kosmischen Strahlung der Luftstickstoff in radioaktiven Kohlenstoff (C-14) überführt und der durch den radioaktiven Zerfall verlorengehende C-14 in jeder lebenden organischen Substanz durch neu produzierten ersetzt wird, wodurch ein Gleichgewichtszustand entsteht, daß aber nach dem Absterben der organischen Substanz C-14 nur noch zerfällt, doch nicht mehr neu gebildet wird. Daher sinkt nach dem Tod jedes Individuums, Mensch, Tier oder Pflanze, der Anteil des radioaktiven Kohlenstoffs C-14 entsprechend dessen Halbwertzeit (5.760 Jahre) am gesamten Kohlenstoffgehalt der Probe. Aus dem Verhältnis zwischen radioaktivem Kohlenstoff C-14 und nicht radioaktivem Kohlenstoff C-12 läßt sich die seit dem Absterben der lebenden Substanz vergangene Zeit errechnen.

Sigma-Werte

Zwei Generationen von Wissenschaftlern haben die Radiokarbonmethode verfeinert. Dabei spielte die Untersuchung von Vergleichsproben genau bekannten Alters (etwa von Textilien mit gut belegter Entstehungsgeschichte oder von Holz, das aufgrund der Jahresringe datiert werden konnte) eine bedeutende Rolle. Das heißt nicht, daß das Alter einer Probe aufs Jahr genau angegeben werden kann. Es ist aber sehr wohl möglich, die Wahrscheinlichkeit zu definieren, mit der das Alter der Probe innerhalb der ermittelten Von-bis-Grenzen liegt.

Dabei spielt der mit der Altersbestimmung angegebene sogenannte Sigma-Wert eine wichtige Rolle. Bei einem Sigma-Wert 1 entspricht die angegebene Bandbreite mit einer Wahrscheinlichkeit von 68 Prozent dem tatsächlichen Alter der Probe. Diese Wahrscheinlichkeit erhöht sich bei Wert 2 auf 95,5 und bei Sigma 3 auf 99,7 Prozent.

Die genauen Ergebnisse -der Grabtuch-Untersuchung sind noch nicht bekanntgegeben, doch war im Statement von Professor Willi Wölfli von der Eidgenössischen Technischen Hochschule von einer 95prozentigen Wahrscheinlichkeit der Zeitangabe die Rede. Man kann daraus den Schluß ziehen, daß die für die Grabtuchprobe angegebene Entstehungszeit „zwischen 1260 und 1390“ mit einem Sigma-Wert 2 (Wahrscheinlichkeit 95,5 Prozent) angegeben wurde. Umgerechnet auf Sigma-Wert 3, also auf eine 99,7prozentige Wahrscheinlichkeit, fiele dann die Entstehungszeit des Gewebes in den Zeitraum zwischen 1226 und 1422.

Selbstverständlich gibt es auch bei Radiokarbon-Messungen Fehlerquellen. So umfangreiche

Textilien wie das Grabtuch etwa sind nicht homogen, was die Bandbreite einer Datumsbestimmung ausweitet. Die Pflanzen, aus denen das Gewebe entstand, mögen sehr unterschiedlicher Herkunft sein.

Vor allem aber weiß man heute, daß die Konzentration des radioaktiven Kohlenstoffes in der Erdatmosphäre keineswegs stabil ist, sondern auch in historischen Zeiten wiederholt sprunghaft wechselte. Die Gründe sind nicht geklärt. Ein Argument, die Altersbestimmung des Grabtuches in Zweifel zu ziehen, ist dies aber auf keinen Fall, denn die Fülle datierter Vergleichsproben aus historischer Zeit ermöglichte die Erarbeitung von Tabellen, in denen dieser Faktor berücksichtigt ist, so daß die Sprünge des Radiokarbongehaltes der Luft in die Altersbestimmungen eingehen.

Die Dendrochronologie (C-14-Methode) ermöglicht keine zerstörungsfreie Untersuchung — die Proben werden ja im Laufe der Untersuchung zu Asche. Dafür wurden die benötigten Substanzmengen im Lauf der Zeit immer geringer: je nach Verfahren Bruchteile eines Gramms bis zu maximal 10 Gramm.

Da die hohe Verehrungswürdigkeit des Grabtuches als Reliquie nicht mehr gegeben ist (siehe FURCHE 42/1988), steht also, sollten sich noch Zweifel an den Untersuchungsergebnissen regen, sollte gar jemand meinen, es könnten Proben vertauscht worden sein, weiteren Tests kein Hindernis im Wege. Vielleicht wird man dabei sogar seiner Entstehung auf die Spur kommen.

• Vor allem bei jeder Untersuchung der angeblichen Blutspuren mußte ja bisher mit einer Rücksicht vorgegangen werden, die sich nun erübrigt. Allerdings stoßen wissenschaftliche Untersuchungsverfahren hier unter Umständen viel früher, als der Laie sich vorstellt, an ihre Grenzen:

Rektor Wilhelm Holczabek, Vorstand des Gerichtsmedizinischen Instituts der Universität Wien, erklärte der FURCHE gegenüber — nach Gesprächen mit deutschen Fachkollegen, die sich mit diesem Problem beschäftigt haben — die Identifizierung jahrhundertealter Blutspuren, auch nur die Identifizierung als Menschenblut, für äußerst problematisch. Was nicht heißt, daß jene, die sogar die Blutgruppe Christi •ermittelt haben wollten, bewußt manipuliert haben müssen: Entsprechende Tests können zu Schein-Resultaten führen, mangels gesicherten Vergleichsmaterials kann von Verläßlichkeit jedoch keine Rede sein.

Perfekte Fälscherkunst?

Am besten schneiden die Botaniker ab, welche - aufgrund identifizierter Pollen - die Herkunft des Grabtuches aus Palästina bestätigten. Gegen eine solche Herkunft spricht ja nichts, der Verlust Jerusalems (1244) fällt noch knapp in den dendrochronologi-schen Sigma-3-Grenzwert, und der Stand der Fälscherkünste in alter Zeit war beachtlich.

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