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Raketen - oder Butter?

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Wenn auch die Amerikaner ihr Apolloprogramm eingestellt und vorläufig weniger ambitionierte Forschungen des Weltraums inauguriert haben, so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß sie die Sowjetunion auf diesem Sektor weit überrundet haben. Griesgrämige Kritiker könnten einwenden, die verschiedenen Spaziergänge auf der Mondoberfläche hätten den USA nichts eingebracht und selbst die von diversen Sekten viel zitierten „grünen Männchen“ seien nicht entdeckt worden. Wurden also die Milliarden Dollars einfach verschleudert? Und hätten damit nicht die Slums und unterentwickelten Regionen, die es in den USA gibt, beseitigt werden können? Kann man aber anderseits den menschlichen Forschergeist bremsen und eine Entwicklung aufhalten, die der Humanität neue Erkenntnisse bringt und sie zu anderen Ufern führt? Beispielsweise gehört es gegenwärtig zum guten Ton, die Realisierung des französisch-englischen Gemeinschaftswerks, des Überschallflugzeugs Concorde, zu verteufeln. Spricht man jedoch mit einigen an der Concorde beteiligten Experten, so lautet deren Urteil eher positiv. Bei der Konstruktion wurde eine derartige Fülle von Neuheiten gefunden — was zum Beispiel die Metallegierungen betrifft —, daß davon zahlreiche Industriezweige befruchtet wurden. Diese können nun dazu übergehen, die Erfindungen technisch und kommerziell auszuwerten.

Kenner der Materie sind sich über die eminente Bedeutung der Weltraumforschung und aller damit verbundenen Folgen durchaus im klaren. In diesem Zusammenhang sei der Akzent auf die Zukunft der

Telesatelliten gesetzt. In einigen Jahren werden sie die moderne Form der Nachrichtenübermittlung darstellen. Die Rückwirkungen auf das Massenmedium Fernsehen sind erst in Umrissen ersichtlich. Nicht vergeblich unternahm der sowjetische Außenminister vor kurzem bei der UNO einen massiven Vorstoß zur Reglementierung der Telesatelliten-Verwendung. Besteht nicht etwa die Gefahr, daß plötzlich amerikanische

Programme auf den Mattscheiben in Moskau, Leningrad oder Kiew aufflimmern und den braven Sowjetbürgern die verfaulende Welt des westlichen Kapitalismus in solchen Farben schildern, daß sie womöglich Gefallen an den zweifelhaften Errungenschaften des Westens finden könnten?

In diesem Ringkampf um die Eroberung des Weltenraums wollten sich die europäischen Staaten .bescheiden, aber doch irgendwie einschalten. Damit wird eines der traurigsten Kapitel der europäischen Zusammenarbeit oder —r um es drastischer auszudrücken — der europäischen Dissonanz transparent. Nach wie vor ist der gemeinsame Agrarmarkt die einzige Einrichtung der EWG. Sämtliche Bestrebungen einer Kooperation auf anderen Gebieten verliefen im Sand. Wie war doch die Begeisterung groß, mit der das europäische Atomzentrum EURATOM gegründet wurde! Bis zum heutigen Tag war es nicht möglich, die europäischen Staaten von der Notwendigkeit einer Zusammenarbeit auf dem atomaren Sektor zu überzeugen. Allein geblieben, lassen die Franzosen ihre Atombomben im Pazifik explodieren und ziehen sich Australiens und Neuseelands Feindschaft zu. Sie desavouieren den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, lehnen aber, wie die Engländer, nach den bisher gemachten Erfahrungen, eina gemeinsame Forschung und Verwendung nuklearer Stoffe ab.

Fast zum gleichen Zeitpunkt wurden 1962/63 zwei europäische Weltrauminstitute ins Leben gerufen. CERS-ESRO sollte Satelliten konstruieren und CECLES-ELDO die Trägerrakete „Europa“. ESRO wurde

ursprünglich von zehn Staaten finanziert, darunter von der Bundesrepublik und Großbritannien; ELDO unterstand vor allem den Franzosen und den Deutschen. Für das Projekt der Rakete „Europa“ bauten die Briten eine Etage, die Deutschen eine zweite und die Franzosen eine dritte. Alle drei Länder konstruierten drauf los und kümmerten sich kaum um die Arbeiten der jeweiligen Partner. Ebenso wenig blickte ELDO auf die Resultate von ESRO. Dabei sind beide Organisationen in demselben Gebäude im Pariser Vorort Neuilly untergebracht. Aber offensichtlich war der Weg vom sechsten zum siebenten Stock dieses Hauses zu weit.

Am 5. November 1971 wurde die Rakete „Europa II“ vom Stützpunkt Kourou — auf der französischen überseeischen Besitzung Guayana — in die Luft gejagt. Die Freude dauerte nur zweieinhalb Minuten. Dann verwandelte sich „Europa II“ in ein großartiges Feuerwerk. Die Techniker der europäischen Weltraumorganisation wollten eine „Europa III“ nicht nur auf ihren Reißbrettern fixieren. Den Engländern war -aber inzwischen die Rechnung zu hoch geworden. Sie nahmen ihren Hut und verließen ELDO und ESRO. Denn der Bau der Europaraketen hatte die Summ* von 3,5 Milliarden französischer Francs erreicht.

Die Franzosen dagegen beharren weiterhin auf der Konstruktion eines europäischen Trägers. Sie blieben dabei mit der Bundesrepublik allein. So projektierten Paris und Bonn einen eigenen Satelliten mit Namen „Symphonie“. Die Deutschen vernahmen jedoch Sirenengesänge aus Washington, welche die europäischen Raumfahrer verführen sollten, am Nach-Apollo-Projekt mitzuwirken. Unter der Führung des seinerzeiti-gen belgischen Wissenschaftsministers Lefevre wurden viele Verhandlungen mit der NASA abgehalten.

Die europäischen Staaten waren jedoch nicht gewillt, den amerikanischen Gesprächspartnern in einer einheitlichen Front zu begegnen. Mit Bedauern wurde hingenommen, daß ein gemeinsames europäisches Weltraumprogramm die nationalen Grenzen und Barrieren nicht zu überwinden vermochte. Die Deutschen und die Franzosen erzielten weder durch höfliche noch durch bissige Polemiken eine Einigung. Die Amerikaner gaben es auf, weiter mit den Europäern zu rechnen. Sie denken jetzt immer mehr an eine Kooperation mit der Sowjetunion. Diese Idee stieß auch in Wissenschafts- und Raumforschungskreisen Moskaus auf ein günstiges Echo.

Im April 1973 kam es, nachdem die Fortführung des Projekts „Europa III“ schon im Dezember 1972 gestoppt worden war, zu einer definitiven Aussprache zwischen Paris und Bonn. Die beiden Regierungen beschlossen, ihre Zahlungen an ELDO am 1. Mai dieses Jahres einzustellen. Das Schicksal von 350 hochwertigen Technikern bleibt dabei vorläufig ungeklärt. Sie kommentieren das Ende der europäischen Raketenforschung mit bitteren Worten. Ihrer Überzeugung nach wird ein zehn Jahre lang mühsam aufgebautes, intellektuelles Kapital in einem Moment vernichtet, in dem Europa technisch, wirtschaftlich und menschlich in eine weltweite Konfrontierung verwickelt ist.

In totaler Indifferenz nahm Europa die Tötung der ELDO hin und delektiert sich, wie „Le Monde“ schreibt, an „sordiden Diskussionen“ über die europäischen Butterpreise. Mag auch das Wort Görings von „Butter oder Kanonen“ kein Gewicht mehr haben, das westliche Europa sollte doch den Mut zu weiteren Maßnahmen aufbringen, um in der technischen Spitzenforschung nicht ausschließlich von den USA abzuhängen.

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