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Raketenkarussell hat auch den Balkan erfaßt

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Ungewöhnlich lange weilte Anfang vergangenen Monats eine sowjetische Militärdelegation unter Leitung des sowjetischen Verteidigungsministers, Marschall Dimitrij Üstinow, in Bulgarien. Sein Aufenthalt galt vorerst der Vorbereitung und der Teilnahme an der Tagung der Verteidigungsminister des Warschauer Paktes in Sofia. Dann verlängerte er seinen Aufenthalt mit höchsten sowjetischen Militärs als Gast des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Bulgariens, der Regierung und des bulgarischen Verteidigungsministers, Armeegeneral Dobri Cu-row.

Gegenüber den häufigen vorhergehenden Besuchen Marschall Ustinows in Bulgarien stellte dies nicht nur eine auffallende protokollarische Aufwertung dar. Jedenfalls ließ es Rückschlüsse auf die Art der Bindungen zwischen Sofia und Moskau zu.

Daß der Aufenthalt Ustinows der Durchführung der Beschlüsse der Sofioter Tagung des Warschauer Paktes diente, steht außer Zweifel. Der militärische Gipfel hatte „die Ausweitung der Zahl der verbündeten Länder, in denen' sowjetische Raketen aufgestellt werden", beschlossen. Bulgarien ist nach Tschechoslowakei, Ostdeutschland und Ungarn ein weiteres Ostblockland, in dem sowjetische Raketen offiziell installiert werden.

In einer Meldung der jugoslawischen Nachrichtenagentur Tan-jug aus Moskau hatte es kurz vor dem Sofioter Warschauer-Pakt-Gipfel geheißen, daß sich „Bulgarien durch die Aufstellung von Mittelstreckenraketen im italienischen Stützpunkt Komiso auf Sizilien bedroht fühlt". „Das wird durch eine Mitteilung über das Ergebnis des militärischen Gipfels in Sofia bestätigt", kommentierte die gewöhnlich gut informierte Tanjug später. Das läßt auf die Aufstellung von sowjetischen SS-20 in Bulgarien schließen — schon wegen ihrer Reichweite, um.die angeführten Militärbasen auf Sizilien erreichen zu können.

Das jugoslawische Parteiblatt „Borba" wiederum meldet, daß im Zuge der Modernisierung des Raketenarsenals im Ostblock auch Warschau der Aufstellung neuer SS-21 und SS-22 auf polnischem Territorium zugestimmt hätte. Daß.die sowjetischen Raketenbasen von sowjetischen Soldaten bedient werden, kann als sicher gelten, wenn darüber auch nichts gesondert verlautet. In Polen müßten dann die Verbindungseinheiten der Roten Armee für die Besatzungstruppen in Ostdeutschland zu regelrechten sowjetischen Enklaven ausgeweitet werden.

Daß in Warschau wie auch in Sofia erheblicher politischer Widerstand gegen die sowjetischen Raketenwünsche überwunden werden mußte, darauf deutet eine Äußerung des , bulgarischen Staats- und Parteichefs Todor Schiwkoff: „Ein sozialistisches Land, das inspiriert wird von den edelsten Idealen zur Schaffung einer Welt des Friedens, strebt keine Raketen an", hatte er nach seiner letzten Begegnung mit dem rumänischen Staatschef Nikolae Ceausescu erklärt.

Technisch stellt der Transport der motorisierten Abschußrampen und der Raketen aus der Sowjetunion nach Bulgarien kein Problem dar. Auf dem Seeweg dauert der Transport von Odessa nach Varna knapp 24 Stunden. Und die regelmäßig verkehrenden Seefähren haben jede eine Kapazität von 110 Eisenbahnwaggons. Da können unbemerkt Divisionen verschifft werden.

Der Widerstand des rumänischen Staats- und Parteichefs Ceausescu gegen den Transport militärischen Materials über rumänisches Territorium wird so umgangen. Das Raketenkarussell hat den Balkan so voll erfaßt.

Der militärische Gipfel des Warschauer Paktes in Sofia hat im Endeffekt aber auch die jahrzehntelangen Bemühungen der Balkanstaaten erschüttert, wenn nicht gar zunichte gemacht, den Balkan aus den militärischen Spannungen herauszuhalten und zu einer atomwaffenfreien Zone zu machen. Bukarest, Belgrad und Athen haben seit Jahren Denkmodelle entwickelt und Vorschläge unterbreitet, die den Weg der Entmilitarisierung und vor allem Entatomisierung ebnen sollten.

Bulgarien als Mitglied des Warschauer Paktes hatte schon bisher den Schlüssel für Balkaninitiativen in der Hand gehabt und somit letztlich der Kreml. Uber technische und ökonomische Annäherungen sind diverse Balkankonferenzen deshalb auch nie hinausgekommen.

Aber Sofia versuchte doch im Rahmen seiner außenpolitischen Möglichkeiten, an direkt interessierenden Balkanfragen zu partizipieren; nicht zuletzt unter dem unermüdlichen Einfluß Rumäniens und dem ansteckenden Kurs des blockfreien Jugoslawien.

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