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Raketenstreit geht weiter

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Mit 286 gegen 225 Stimmen entschied sich der Deutsche Bundestag am 22. November für den Vollzug des NATO-Doppelbe- schlusses: ein „historisches Datum“, das die BRD völlig verändert?

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Mit 286 gegen 225 Stimmen entschied sich der Deutsche Bundestag am 22. November für den Vollzug des NATO-Doppelbe- schlusses: ein „historisches Datum“, das die BRD völlig verändert?

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Nach dem zweitägigen Debattenmarathon über die Nachrüstung kam das große Erschlaffen. Die Schnelligkeit, mit der die Parlamentarier zur Tagesordnung übergingen, läßt jedenfalls keine geschichtsträchtigen Schlüsse zu. Zwei Tage nach der großen Debatte kungelte man bereits wieder zusammen in Sachen Diätenerhöhung. Vom großen Einschnitt war nichts mehr zu spüren.

Sicher, es gab Begleitumstände, die Nachwirkungen haben werden. Zum ersten Mal in der Geschichte der Republik mußte das freigewählte Parlament unter Polizeischutz tagen. Die Spitzenaktivisten der Friedensbewegung hatten genügend Anhang mobilisieren können, um wenigstens einen Tag den Bundestag und das Regierungsviertel zu blockieren.

Ihr Ziel, das Rednerpult im Plenum zu erobern, verfehlten sie zwar, doch die martialischen Bilder von behelmten Polizisten im Gemenge mit Demonstranten vor der Kulisse des Kanzleramtes gingen um die Welt. Wie sicher, so mag sich da im Ausland mancher gefragt haben, ist die deutsche Demokratie? Wie steht es um die Berechenbarkeit der Deutschen?

Wer sich Umfrageergebnisse aus den letzten Wochen ansieht, ist geneigt, jenen recht zu geben, die von einer Spaltung des deutschen Volkes reden oder der Bundesregierung vorwerfen, gegen die Mehrheit der Bevölkerung zu regieren. Wahr daran ist, daß die

Bürger keine Begeisterung über die Nachrüstung empfinden.

Wahr ist aber auch, daß gerade jene aus den Reihen der SPD und der friedensbewegten Grünen die nicht unproblematische Stimmungslage erst erzeugt haben, die in unverantwortlicher Weise mit apokalyptischen Horrorgemälden die Entscheidung des Deutschen Bundestages schon weit im Vorfeld zu einer Entscheidung über Krieg oder Frieden hochstilisiert hatten. ,

Alois Mertes, CDU-Staatsminister im Auswärtigen Amt, blieb es am Ende der Debatte Vorbehalten, diesen Sachverhalt in bildhafte Worte zu kleiden: „In der Bibel gibt es die Gestalt des selbstgerechten Pharisäers. In diesem Land schreiten zur Zeit Friedenspharisäer umher, die da sagen: O Gott, ich danke dir, daß ich so für den Frieden bin; dreimal in der Woche protestiere ich gegen den NATO-Doppelbe- schluß, zweimal beschimpfe ich den Bundeskanzler, einmal sogar auch noch die SPD — und nicht wie dieser Mertes da, der den atomaren Krieg über uns kommen lassen will.“

Unbeeindruckt von solcher Kritik und von der Mehrheitsentscheidung des Parlaments haben die Sprecher der Friedensbewegung angekündigt, daß sie nunmehr nicht allein mit spektakulären Aktionen, sondern mit praktiziertem „zivilen Ungehorsam“ den Staat an den Rand der Handlungsunfähigkeit bringen wollen: Was zeigt, daß die Auseinandersetzungen um die Raketen noch lange nicht vorbei sind.

Die deutschen Sozialdemokraten schweben zur Zeit im Niemandsland. Ihr Nein zur Nachrüstung, das von allen kundigen Beobachtern als der Beginn eines Neins zum westlichen Bündnis verstanden wird, hat sie in Gegensatz nicht nur zu einem großen Teil der Bürger, sondern auch zu fast allen sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien des befreundeten europäischen Auslands gebracht.

Doch das schert die deutschen Sozialdemokraten wenig. Sie fühlen sich in der Rolle des kühnen Neuerers und Wegbereiters: vor allem SPD-Chef Willy Brandt, der seinen Triumph über den verhaßten Helmut Schmidt in vollen Zügen genoß.

Doch auch die SPD wird in den nächsten Monaten nicht um die Beantwortung der Frage herumkommen, was — außer einer innerparteilichen Selbstbefriedigung — ihr Nein eigentlich rechtfertigt.

Den Abbruch der Genfer Verhandlungen kann sie solange nicht ins Feld führen, wie nicht klar ist, wieviel sowjetischer Theaterdonner damit verbunden ist.

Daß die düsteren Prophezeiungen über den Hereinbruch einer neuen deutsch-deutschen Eiszeit unbegründet waren, hat Erich Honecker jetzt selbst offenbart. Vor dem Zentralkomitee der SED beschwor er zwar die Treue des Verbündeten zu Moskau, was das Mittragen der von den Sowjets geplanten Gegenmaßnahmen einschließt — was bleibt ihm auch , sonst übrig? Aber in der gleichen Rede hob Honecker hervor, daß die Beziehungen zu Bonn nicht nur erhalten, sondern unbedingt weiter ausgebaut werden sollten. Nicht nur das zeigt, daß die Politik nüchtern weitergeht.

Schwerer wiegt da schon, daß erstmals seit 1960 der außen- und sicherheitspolitische Konsens zwischen den tragenden Parteien der Bundesrepublik Deutschland ernsthaft gefährdet ist. Während die Bundesregierung eine nahtlose Kontinuität auf diesem Feld zur Regierung Schmidt verfolgt, hat sich die SPD im Eilmarsch aus dem Geflecht der über zwei Jahrzehnte gemeinsam vertretenen Positionen der westlichen Allianz entfernt.

Das ist weniger eine Frucht reiflicher rationaler Überlegungen, als vielmehr ein Tribut an die emotionsgeladene Protestbewegung, auf deren Integration in die SPD Willy Brandt mehr denn je setzt im Bemühen um eine Mehrheit links von der Union. Da spielt Gefühligkeit eine wesentliche Rolle. Es ist — ironischerweise — das Deutscheste, was es im politischen Spektrum der Bundesrepublik derzeit gibt.

Helmut Schmidt rieb es seinen Genossen auf dem Kölner Parteitag unter die Nase, ohne daß sie den Sinn verstanden hätten. Er zitierte Heine aus „Deutschland, ein Wintermärchen“: „Franzosen und Russen gehört das Land,/ das Meer gehört den Briten./ Wir aber besitzen im Luftreich der Träume/ die Herrschaft, unbestritten. Hier üben wir die Hegemonie,/ hier sind wir unzerstückelt./ Die anderen Völker haben sich/ auf platter Erde entwickelt.“

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