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Randbemerkungen eines bemühten Christen

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Wenige hundert Meter von unserer Kirche entfernt leben fast 4000 alte und kranke Menschen in den Pavillons des Altersheimes: Menschen, die nicht mehr zuhause bleiben konnten. Viele von ihnen sind vereinsamt, verstummt, abge­schoben, vom Leben abge­schnitten.

Das Areal des Altersheimes ist von christlichen Kirchen und guten Gemeinden umge­ben. In solcher Nachbarschaft wird das Wort Jesu „Ich war krank und Ihr habt mich be­sucht ..sehr konkret, är­gerlich konkret sogar, ja pro­vokant.

Einige Leute und Gruppen haben die Herausforderung angenommen. Im letzten Jahr haben sich auch Jugendliche aus unserer Pfarre zu sozialen Arbeitskreisen zusammenge­schlossen und sich Besuche im Altersheim als Aufgabe ge­stellt. So sind neue Beziehun­gen entstanden

Alte Menschen haben wie­der zu reden und zu lachen be­gonnen, junge Menschen ha­ben dabei ihre menschliche Be­gabung entdeckt. Sogar rich­tige Freundschaften sind ent­standen, wo nicht mehr zu un­

terscheiden ist, wer glücklicher geworden ist, der Besuchte oder der Besucher.

Trotzdem war es für Jugend­liche oft schwer, regelmäßig hinzugehen, Woche für Wo­che, um immer die gleichen Lebenserinnerungen anzuhö­ren. Manche mußten über­haupt ohne Antwort durchhal­ten. Gebrechlichkeit, geistige Abwesenheit, Krankheit, abge­rissene Familienbeziehungen, Verbitterung und Müdigkeit sind trotz der Besuche und al­lem Einsatz geblieben oder wieder aufgebrochen.

Oft genug wurde der Besuch einfach zur Pflicht, und die Ar­beitskreisleiterin mußte die Ju­

gendlichen zum Hingehen drängen. Dazu kamen noch Schwierigkeiten und Pannen, wenn etwa ein Sechzehnjähri­ger einem Diabetiker Zuckerln brachte oder wenn ein enga­giertes Mädchen durch un­kluge Kritik eine Stations­schwester verärgerte und da­durch dem Patienten Nach­teile statt Verbesserung ein­brachte.

Viele Fragen und Probleme sind bei den Aktionen unserer sozialen Arbeitskreise aufge­taucht. Ist es wirklich eine Hil­fe, bei alten Leuten noch ein­mal solche Erwartungen und Bedürfnisse zu wecken, die sie

ohne diese Besuche nicht mehr gehabt hätten? Geraten die Ju­gendlichen durch solche Ein­sätze nicht in menschliche Pro­bleme hinein, die in ihrem Äl­ter zu belastend sind?

Manche Mutter klagte auch, daß der soziale Einsatz ihres Sohnes zur Flucht vor den Aufgaben in der Schule und in der Familie führe. Darf man den Jugendlichen solche Aufgaben zu muten, die ohne­hin schon unter Streß leiden?

Fragen über Fragen, die auch auftauchen, wenn junge Leute in der Psychiatrie Besu­che machen, sich um einen Rauschgiftsüchtigen oder ei­

nen Strafgefangenen küm­mern oder auch nur um einen Versager in der Klasse.

Dennoch: die positiven Er­fahrungen überwiegen bei wei­tem. Ich habe selbst erlebt, wie durch einen solchen Besuchs­dienst Menschen wieder oder überhaupt erst zu leben begon­nen haben - die jungen und die alten!

Ich glaube, daß durch solche Versuche von Leuten, die we­der vom FachnochvonderPoli- tik etwas verstehen, aber ihre Freundschaft gezielt „dem Ge­ringsten der Brüder“ anbieten, die Welt verändert wird und Wunder geschehen. Wunder allerdings, die nicht so sehr im Ergebnis sichtbar sind als viel­mehr im Einsatz selbst und im Tun, in der gesuchten Begeg­nung, in der verschenkten Zeit, in der stillschweigenden Soli­darität.

Ich glaube auch, daß die Ju­gendlichen durch einen solchen Einsatz nicht verheizt, sondern als Menschen und Christen aufgebaut werden. Könnte bei unserer Nachbarschaft Kirche anders aufgebaut werden?

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