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„Rat der Kritik“ für die KoaKtion

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Die 85-Prozent-Wähler-konzentration in der Regierung verstärkt die Parteien- und Verbändestaatlichkeit Österreichs. Neue Wege der Kontrolle sind jetzt gefragt.

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Die 85-Prozent-Wähler-konzentration in der Regierung verstärkt die Parteien- und Verbändestaatlichkeit Österreichs. Neue Wege der Kontrolle sind jetzt gefragt.

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Auch die Anhänger konkordanzdemokratischer Entscheidungsmuster müssen sich nach der Bildung der Großen Koalition den Kopf zerbrechen, daß in einem solchen System, das große Integration und Stabilität bringt, die nötigen Widerlager und Korrektive vorhanden sind, um Innovation und Kontrolle zu gewährleisten, da die institutionelle parlamentarische Opposition relativ klein ist.

„Kontrolle“ als „kritische und überwachende Einwirkung“ (Ulrich Scheuner) ist Uberprüfung

von Verhalten und Akten auf Zieladäquanz und dient vier Zwecken:

• der Hemmung der Macht Und der Abwehr von Mißbräuchen;

• der Realisierung von Verantwortung, die sonst in Folgelosig-keit verharrte, als festrednerische Sprechblase im politischen Getriebe schwebte;

• der Integration des politischen Systems durch Stärkung des Vertrauens in die Korrektheit des politischen und rechtlichen Prozesses;

• der Steigerung der Qualität des Staatshandelns durch Garantie von Rechts- und Sachrichtigkeit.

Bei all dem muß die Notwendigkeit von Initiative und Entscheidung unbestritten bleiben. Kontrolle soll Rationalität und Leistung fördern, nicht zu Ängstlichkeit und Handlungsscheu führen.

Der hohe rechtsstaatliche Kontrollstandard in Österreich ist imponierend, jedenfalls was die Hoheitsverwaltung anbelangt. Die Hauptprobleme liegen auf dem Gebiet der politischen und der finanziellen Kontrolle. Hier fanden auch in den letzten Jahren die wichtigsten Reformen statt.

Die politische Kontrolle durch das Parlament und die Opposition in ihm wurde jedoch allmählich ausgedehnt - unter Vorreiterrolle der Bundesländer — auf durchaus rechtsstaatlich konstruierte direktdemokratische Instrumente und auf informelle Mittel (Öffentlichkeit, Medien).

Der Demokratie in ihrer repräsentativen und ihrer partizipato-rischen Komponente wuchs immer mehr neben der Mitwir-kungs- eine Kontrollfunktion zu.

Die Zahl der Maturanten und Akademiker und damit auch des kritischen Potentials und der Wechselwähler ist gestiegen, die Investigationsbereitschaft der Medien hat zugenommen, die Bürger wünschen mehr direkte Demokratie in der Gesetzgebung und Partizipation in der Verwaltung, und Dynamik, Konkurrenz und Konflikt haben anders als in der Wiederaufbauphase einen hohen Stellenwert.

Eine Große Koalition verstärkt die Züge der Parteien- und Verbändestaatlichkeit Österreichs, einer pragmatischen gegenwartsnahen Politik, „wobei das Duopol der beiden Großparteien tendenziell zur kollektiven Disziplinierung und bipolaren Kolonisierung der Gesellschaft neigt“ (Manfried Welan). Freilich dürfen Intraorgankontrollen durch Kooperation in einer Großen Koalition nicht übersehen werden.

Im Arbeitsübereinkommen zwischen SPÖ und ÖVP vom 16. Jänner 1987 wird auf Reform- und Kontrollanliegen nur sehr vorsichtig eingegangen: gewisse, f rei-lich „gebremste“ Initiativ- und

Abstimmungsfreiheit der Koalitionspartner, Wahlrechtsreform, Erleichterung des Volksbegehrens, Einführung der Volksbefragung (aber nicht über Initiative des Volkes), Erweiterung der Bürgerpartizipation im Verwaltungsverfahren, Verbesserung des Petitionsrechtes, bloße Gesprächsbereitschaft hinsichtlich Geschäftsordnungsreform und verfassungsrechtlicher Verankerung der Proportionalregierung.

Ähnlich temperiert werden Föderalismus- und Rundfunkfragen angeschnitten. Eine eigene Beilage bildet die Objektivierung der Personalentscheidungen im öffentlichen Dienst.

Vieles bleibt unerwähnt (zum Beispiel die Grundrechtsreform), vor allem eine Selbstbindung der großen politischen Kräfte zur Parteien- und Verbändereform.

Als Gegengewicht zur starken Parteien- ' und Verbändestaatlichkeit, dem alten Gedanken der

Machtbalance dienend, um der „anvertrauten Macht Grenzen zu setzen und die Einhaltung dieser Grenzen zu überwachen“ (Ulrich Scheuner), empfiehlt sich:

• Wachsame Pflege fachlich hochqualifizierter und unabhängiger Fremdkontrollen; mit Karl Wenger: „Bei der organisatorischen Ausgestaltung der Institutionen der öffentlichen Kontrolle ist entscheidend, daß die Unabhängigkeit der Kontrollinstanzen von den kontrollierten Instanzen optimal gesichert ist.“ Deshalb sollte am Bestellungsmodus der Mitglieder des Verwaltungsgerichtshofes nicht gerüttelt werden;

• Fruchtbarmachen der Kontrollwirkungen von direkter Demokratie/Partizipation;

• Weiterdenken in Richtung auf Entstaatlichung und Ent(partei)-politisierung von Lebensbereichen (Bildung, Kultur, Wirtschaft). Für die parteipolitische

Penetration Österreichs kennzeichnend ist, daß fast eine Woche lang nach einem „unabhängigen“ Justizminister gesucht werden mußte.

Zu den laufenden Reformvorgängen müssen noch folgende Sozialtechniken ins Gespräch gebracht werden:

• Pflege einer Aura intensivierter Öffentlichkeit, von der Manfried Welan salopp sagt, daß sie „die Würze im politischen Ein-topf“ seien;

• eine gründliche Länderkonferenz (nach dem Vorbild der beiden Republikgründungsphasen) sollte die Erfahrungen der Länder und Gemeinden mit Konkordanz und direkter Demokratie mit dem Bund vor der Folie eines sachkundigen System- und Rechtsvergleichs mit der Schweiz, mit Südtirol und der Bundesrepublik Deutschland diskutieren;

• Selbstaktivierung der informellen und freiwilligen Formierung einer Kritikpartnerschaft von Medien, Wissenschaft, Kunst und Kirchen zu einem „Rat der Kritik“. Die Mitgliedschaft hiezu müßte mit politischen Funktionen in Parteien, Verbänden, Parlament und Regierung unvereinbar sein.

Quälende Fragen

Die begleitende Kritik der Großen Koalition (zusammengefaßt etwa in Jahresberichten) durch pluralistisch zusammengesetzte „Neutrale“ und „Distanzierte“ könnte zur Kontrolle und mit Anregungen auch zur Innovation beitragen.

Die quälende Frage Ludwig Adamovichs läßt sich nicht heiteren Sinnes mit „Ja“ beantworten: „Sind die bestdurchdachten Institutionen überhaupt geeignet, menschlichen Schwächen wirksam entgegenzutreten?“ Dazu ist auch viel politische Moral erforderlich. Uber jedem Gemeinwesen lastet die Gefahr, daß sich seine Bürger von ihm entfremden. Um dem abzuhelfen, ist zuerst Selbstprüfung notwendig.

Der Autor ist Professor für Öffentliches Recht, Politikwissenschaft und Verwaltungslehre an der Universität Graz.

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