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Raymond Barre will die Wirtschaft umstrukturieren

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Die fünfte französische Republik - ein absolut liberaler Staat? Sieht man die Einhaltung der Menschenrechte, kann man diese Frage mit ja beantworten. Besonders im wirtschaftlichen Sektor ist diese absolute Freiheit aber keineswegs eine Selbstverständlichkeit! Immer wieder wird geklagt, daß der strenge Zentralismus in Frankreich weiterhin zur Regel der Staatsform zählt.

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Die fünfte französische Republik - ein absolut liberaler Staat? Sieht man die Einhaltung der Menschenrechte, kann man diese Frage mit ja beantworten. Besonders im wirtschaftlichen Sektor ist diese absolute Freiheit aber keineswegs eine Selbstverständlichkeit! Immer wieder wird geklagt, daß der strenge Zentralismus in Frankreich weiterhin zur Regel der Staatsform zählt.

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Wie auch in anderen westlichen Ländern wollten jene Kräfte, die den Kampf gegen die Divisionen Hitlers aufgenommen hatten, nach Beendigung des Krieges ein System schaffen, das den drei Parolen der großen Revolution entsprechen sollte. Zahlreiche Männer und Frauen der Widerstandsbewegung hatten dabei ziemlich genaue Vorstellungen von einer solchen Gesellschaftsordnung entwickelt. Vor allem ging es dem Spitzenvertreter der „Ressitance“ darum, die Finanzgebaren der wichtigsten Geldinstitute ständig unter Kontrolle zu halten und ausländische Interessen nicht zu stark werden zu lassen.

Als klassisches Beispiel kann der Industriemagnat Empain angeführt werden, der ein gewaltiges Imperium aufgebaut und gelenkt hatte. Der damalige amtierende Staatschef Pompi-dou hat zahlreiche Demarchen unternommen, um den Einfluß des belgischen Industriekapitäns in Frankreich zu beschneiden. Pompidou zog aber schließlich den kürzeren und bis zur Entführung Empains spielte der Konzern eine bedeutende Rolle in der Entwicklung der Schwerindustrie. Aber auch Empain mußte Rücksicht nehmen, wenn es darum ging, Kredite

von den französichen Banken zu erhalten. Denn die wichtigsten Institute sind alle nationalisiert und werden vom Finanzministerium ständig überwacht.

Auch große Industrieunternehmen wurden nach 1945 in die staatliche Verwaltung übernommen, unter anderem die gewaltigen Industriewerke der Firma Renault. Obwohl auf dem Papier eine strenge Scheidung zwischen den Dienstleistungsbetrieben - etwa Eisenbahn und Post - und Privatbetrieben besteht, mischt sich der Staat in die Verwaltung der letzteren nur zu oft ein.

Während also Wirtschaftsfachleute den Liberalismus preisen, ist nicht gesagt, daß er auch die Grundlage der französischen Industriepolitik darstellt. In den vergangenen Jahren haben mehrfach große Firmen, darunter Citroen, staatliche Finanzspritzen erhalten, die ihnen die Uberbrückung schwerer Defizite ermöglichten und Arbeitsplätze sichern halfen. Es steht daher fest, daß der Staat in viel größerem Ausmaß Eingriffe in die Besitzverhältnisse dieser oder jener Produktionsstätten vorgenommen hat, als ursprünglich angenommen wurde.

Der jetzige Ministerpräsident Raymond Barre hatte sofort nach Amtsantritt verkündet, daß seine Pläne darauf hinzielen, eine Umstrukturierung der Wirtschaft in die Wege zu leiten. In den zahlreichen Konferenzen, die der Ministerpräsident mit sämtlichen repräsentativen Gewerkschaftszentralen wie Unternehmern geführt hatte, setzte, der Regierungschef die Akzente seiner Ausführungen auf eine Zentralidee: Er will die Aussprachen zwischen privaten Unternehmen und Gewerkschaften fördern, um ihnen jenes Gewicht beizumessen, damit der soziale Friede erhalten werden kann. Sämtliche Arbeitnehmerorganisationen, die in den vergangenen vier Wochen von Raymond Barre empfangen wurden, lobten das Verständnis des Ministerpräsidenten, der die Freiheit nicht nur als Slogan in die politische Diskussion stellt, sondern sie auch praktisch anwenden will.

Die CGT wie die CFDT, um nur die beiden mächtigsten Gewerkschaftszentralen zu nennen, haben seit Jahren zum erstenmal entdeckt, daß konkrete Möglichkeiten bestehen, in verschie-

denen Sektoren des Wirtschaftslebens einen Dialog einzuleiten, der es erlaubt, die gegenseitigen Rechte und Pflichten der französischen Betriebe in Kollektivverträgen zu fixieren. Ohne Zweifel ein großer Fortschritt!

Darüber hinaus hat Raymond Barre feierlich verkündet, daß der Liberalismus als Basis der französischen

Ökonomie anerkannt werden muß. Die Gewerkschaften rechneten allerdings ursprünglich damit, daß die Konsultierungen zwischen den Sozialpartnern unter Teilnahme von Regierungsvertretern eingeleitet werden sollten. Dabei schwebten den Gewerkschaftsführern zwei Beispiele aus der jüngeren Geschichte vor: Nach Bildung der Volksfront 1936 kam es zu weitausholenden Gesprächen, die der Arbeiterschaft eine Reihe beachtlicher Vorteile verschafften, etwa den bezahlten Urlaub.

1968, am Höhepunkt der Staatskrise, kam es wiederum zu einem berühmt gewordenen Vertrag, der nach dem Sitz des Arbeitsministeriums, in dem

die Verhandlungen abgehalten wurden, als das „Abkommen von Grenel-le“ bereits in die jüngste Geschichte eingegangen ist. Aber bis jetzt waren weder Regierung noch Unternehmerverbände mit dem Vorschlag einverstanden, ein „Super-Grenelle“ zu beschließen. So wird es also in den kommenden Monaten zu Verhandlungen kommen, die je nach Sektoren verschiedene Aspekte behandeln werden. Jedenfalls haben es diese Perspektiven gestattet, die um vieles seriöser sind als die illusionistischen Vorstellungen der Linksparteien, daß anstelle revolutionär anmutender Streiks ein Klima geschaffen wird, in dem die Auseinandersetzungen nicht auf der Straße, sondern in jenen Büros stattfinden, in denen bisher die Industriepolitik der Regierung ausgearbeitet wurde. Auf alle Fälle hat der Ministerpräsident neuerlich bewiesen, daß er dank seines besonderen Verhandlungsgeschicks eine Bombe entschärfen konnte, die leicht hätte explodieren können.

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