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Realglasnost: Kein Frühling in Leningrad

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Hautnah Realglasnost-Zustände erleben konnten österreichische Publizistik-Studierende beim sechsten Forum der Europäischen Journalistik Studenten (FEJS) Anfang Mai in Leningrad. Dazu eine Reportage.

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Hautnah Realglasnost-Zustände erleben konnten österreichische Publizistik-Studierende beim sechsten Forum der Europäischen Journalistik Studenten (FEJS) Anfang Mai in Leningrad. Dazu eine Reportage.

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Gleich bei der Anreise wurde offenkundig, daß die von alten FEJS-Hasen verbreitete Warnung, der Kongreß sei schlecht vorbereitet und die Organisatoren seien nicht ganz astrein, nicht völlig aus der Luft gegriffen war. Da der Transport vom Flughafen zur Unterkunft, einem Schiff, nicht organisiert war, „kauften” sich die Organisatoren kurzerhand einen Busfahrer, der die Teilnehmer für fünfzig Dollar zum Schiff brachte. Fünfzig Dollar sind für „Westler” nicht so viel, auf sowjetische Verhältnisse übertragen, ist das aber der Monatslohn eines Spitzenverdieners.

Daß die manifeste Kraft des Dollars einen ungeheuren Reiz auf geschäftstüchtige beziehungsweise süchtige Sowjetbürger ausübt, war Wladimir Jegorow, dem Orgaisator des Leningrader FEJS-Treffen, anzumerken. Mit 25 Dollar Taggeld für Unterkunft und Verpflegung glaubte er gut auszusteigen, eine zweitägige Fahrt nach dem Kongreß um 80 Dollar sollte zusätzliche Devisen bringen. Doch da für je zwei Delegierte pro Schule/ Universität laut FEJS-Statuten die Veranstalter aufzukommen haben und im organisierten Chaos so manche aus Verärgerung gleich nichts gezahlt haben, wurde aus dem Devisengeschäft nichts bis wenig.

Die inhaltliche Organisation des Forums war kaum vorhanden, die sowjetischen Vortragenden kamen alle durchwegs zu spät; nur am letzten Tagungstag war einer pünktlich, ein Mitarbeiter der PR-Abteilung der deutschen Lufthansa. Auch wenn die Übersetzungen vom Russischen ins Englische durch Leningrader Studenten sehr mühsam waren und die Veranstalter bemüht waren, ein harmonisches Bild der Realperestrojka-Zustände zu liefern, kam einiges von den nicht zu verbergenden Krisen zur Sprache. Mitarbeiter des Leningrader Femsehens waren ganz erstaunt und erschüttert, als ein litauischer Kongreßteilnehmer die einseitig prorussische Berichterstattung im Femsehen über den Einsatz sowjetischen Militärs gegen Demonstrierende in Vilnius ankreidete und die westlichen Studierenden kein Wort der Beteuerungen glaubten, daß die russischen Femsehjournalisten nur das gefilmt hätten, was vom Hotel aus zu sehen war und diese sich nicht auf die Straße getraut hätten, weil die Balten so gefährlich waren.

Puren Optimismus versuchte der Leningrader Bürgermeister Anatoli Sobtschak zu zerstreuen. Er beklagte sein Leid mit den Zentralbehörden in Moskau, da aufgrund der nichtdefinierten Machtverteilung der verschiedenen Ebenen (Zentralregierung/Republiken/Gemeinden) jede seiner Entscheidungen Gefahr laufe, geändert oder aufgehoben zu werden. Sobtschak glaubt, daß die Sowjetunion in mehrere Staaten zerfallen werde und es zu einer Reintegration durch die Wirtschaft kommen werde. Leningrad setzt auf Joint-Ventures mit dem Westen, es gebe schon 200 solcher Kooperationen.

In Leningrad gebe es viele Monarchisten. Die Umbenennung in St. Petersburg am 12. Juni wurde vom Stadtparlament in einer korrekten Entscheidung getroffen. Er, Sobtschak, sei für ein Referendum, mehr als die Hälfte der Bevölkerung unterstütze seiner Einschätzung nach diese Umbenennung.

Nach seinen schwungvoll inszenierten Statements hatte der Profipolitiker, von dem es heißt, er gelte als potentieller Nachfolger Gorbatschows, wenig Zeit und rauschte zum nächsten Termin.

Das Privileg, einen kleinen Blick auf die Realverfassung sowjetischer Wirtschaft zu werfen, hatten jene Studierende, die noch ein paar Tage in Leningrad bleiben mußten, weil die Flugverbindung es so wollte. Im vor einigen Wochen ausgesandten Programm wurde zwar unverbindlich versprochen, für jene, die noch in Leningrad bleiben wollen, Quartiere zu organisieren. Doch die Veranstalter hatten keinerlei Versuche unternommen und gaben den Ratschlag, in einem Touristenhotel um 40 bis 80 Dollar pro Tag zu wohnen.

Als rettender Anker wurde ein .Jugendhotel” um „nur” 15 Dollar pro Tag offeriert. Froh, doch etwas halbwegs Billiges gefunden zu haben, machten sich jene, die noch länger blieben, mit einem Bus und einer Dolmetscherin am letzten Forumstag zum neuen Quartier auf.

Dieses Quartier stellte sich als das ärmliche Studentenheim der Leningrader Restaurationsschule heraus. Der sechzehnstöckige Betonklotz ist sehr renovierungsbedürftig. Die kleinen Zimmer hatten nur zwei Betten, einen Einbaukasten und manche sogar einen Tisch. Wasser gab es nur am Klo, dessen Einbauwände vorsichthalber nicht berührt wurden, da sie völlig morsch und verrostet waren und zu zerbröseln drohten. Mit einem Vertreter der Heimleitung wurde lange über den Preis hin und her gestritten. Zehn Dollar wurde für die Nächtigung verlangt, ein Dollar für Essen und fünf Dollar für den Bus. Den Bus wollten wir nicht, da ein Taxi schon billiger käme und öffentliche Verkehrsmittel nur 15 Kopeken kosten. Doch ohne Bus rechne sich das Geschäft nicht, dann koste die Übernachtung 15 Dollar. Zähneknirschend zahlten wir dann doch 16 Dollar für jeden Tag, denn, so wurde versichert, etwas Billigeres fänden wir als Ausländer nicht. Die Dolmetscherin war auch nicht gerade hilfreich, denn beim Schröpfen der Touristen arbeiten die verschiedenen Sektoren der Schatien-wirtschaft (Zimmervermieter, Busfahrer) gut zusammen.

Der tägliche Kampf um den Dollar setzte sich die folgenden zwei Tage fort. Gegenüber Taxifahrern sollte man niemals sagen, Dollars zu haben. Den Fahrpreis sollte man immer vorher in Rubel aushandeln. Leichtgläubige Touristen zahlen fünf Dollar, in Rubel meist „nur” noch zwanzig Rubel (weniger als ein Dollar). Das ist immer noch ein gutes Geschäft, denn der übliche Monatslohn eines ehrlich arbeitenden Menschen beträgt 600 Rubel, ein Sowjetbürger zahlt für das Taxi zwei bis drei Rubel, ein Mietauto kostet 1,30 Rubel am Tag und 40 Kopeken pro Liter Benzin.

Wechseln am Schwarzmarkt zahlt sich überhaupt nicht aus, denn der offizielle Kurs beträgt nun 27 Rubel für einen Dollar, der Schwarzmarktkurs eins zu dreißig, und betrogen wird man sowieso meistens. Entweder es verschwinden ein paar Geldscheine oder es befinden sich unter den Rubel wertlose Währungen wie zum Beispiel jugoslawische Dinar.

Zeichen der Veränderung, der Entwicklung sind in Leningrad nicht bemerkbar. Die Menschen wohnen in denselben Betonklötzen, waten mit Gummistiefeln durch den Morast und über die schlechten Wege, Autos kurven zwischen den Fahrbahnen hin und her, um den riesigen Schlaglöchern, offenen Kanallöchem auszuweichen, Straßenbahnen rattern über wellige, ausgewerkelte Gleise. Staub hängt nicht nur an den Wänden, aschgrau sind auch die Gesichter der Menschen, bräunlich und stark chloriert ist das Leitungswasser. In den staatlichen Geschäften wird nach wie vor nach dem umständlichen Bonsystem eingekauft - Bon ausstellen, an der Kassa zahlen, Bon einlösen.

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