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Realisten mit Sinn für Utopie

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Gerade die Debatte um die Inbetriebnahme des Atomkraftwerkes Zwentendorf hat weiten Kreisen der Bevölkerung bewußt gemacht, daß unsere Gesellschaft fortwährend Maßnahmen mit schwerwiegenden und weit in die Zukunft hineinreichenden Wirkungen setzt. Diese Einsicht sollte Anlaß sein, unsere Einstellungen zur Beziehung zwischen Gegenwart und Zukunft zu bedenken.

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Gerade die Debatte um die Inbetriebnahme des Atomkraftwerkes Zwentendorf hat weiten Kreisen der Bevölkerung bewußt gemacht, daß unsere Gesellschaft fortwährend Maßnahmen mit schwerwiegenden und weit in die Zukunft hineinreichenden Wirkungen setzt. Diese Einsicht sollte Anlaß sein, unsere Einstellungen zur Beziehung zwischen Gegenwart und Zukunft zu bedenken.

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Friedrich Nietzsche schreibt in „Der Wille zur Macht”, die folgenden schwerwiegenden und erschütternden Sätze: „Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus. Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden: denn die Notwendigkeit selbst ist hier am Werke. Unsere ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: einem Strom ähnlich, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen.”

Viele von uns werden sich in mancher Hinsicht mit der Diagnose identifizieren können, gleichzeitig aber deutlich empfinden, daß hier eine pessimistische Grundeinstellung zum Ausdruck kommt, der wir nicht folgen können und folgen sollen.

Die Frage muß allerdings gestellt werden: Was ist falsch an dieser Einstellung? Und: Ist der einzige Ausweg darin zu sehen, daß man als Mensch, der nicht der Trostlosigkeit verfallen will, nur die Gegenposition beziehen kann? Ist also grenzenloser Optimismus die richtige Antwort?

Um es vorweg klarzustellen: Ich bin überzeugt davon, daß weder Optimismus noch Pessimismus geeignet sind, mit den Herausforderungen unserer Zeit zu Rande zu kommen. Beide leiden daran, daß sie eine einseitige Sicht entwickeln, daß sie einen Teüaspekt an der Beziehung zwischen dem Heute und dem Morgen verabsolutieren. ‘

Wo aber liegen die Ansatzpunkte, die einen Ausweg weisen? Sie werden deutlich, wenn man sich etwas ausführlicher und systematischer damit beschäftigt, was eigentlich berücksichtigt werden muß, wenn der Mensch Handlungen setzt, die für die Zukunft bedeutsam sind.

Jedem von uns ist klar, daß der Mensch gegenüber zukünftigen Ereignissen durchaus nicht neutral ist. Es ist ihm nicht einerlei, was morgen, was in einem Jahr, was zu seinen

Lebzeiten, zu Lebzeiten seiner Kinder geschehen wird. Er hat Präferenzen, manche Zustände sagen ihm eher zu, manche andere wird er tunlich zu verhindern trachten. Wir alle haben Wünsche für die Zukunft, wir alle sollten imstande sein, das Bild einer wünschbaren Zukunft zu entwerfen.

Der deutsche Philosoph Georg Picht spricht von der Notwendigkeit, eine Utopie für die Zukunft zu entwickeln. Das gilt sowohl für den Einzelmenschen, als auch für die Gesellschaft.

Leitbild und Utopie allein genügen jedoch nicht, um für die Gestaltung der Zukunft gerüstet zu sein. Ein zweiter wichtiger Bereich muß ins Spiel kommen: Jeder, der zielgerichtet handeln will - ob Mensch oder Gruppe - muß sich, bevor er Maßnahmen setzt, in seiner Umwelt orientieren. Folgende Fragen müssen möglichst genau geklärt werden: Wie ist die gegenwärtige Situation? Wie funktioniert der Bereich, den ich gestalten wül? Welche sind die wichtigsten Einflußgrößen?

Wer z. B. ein Haus bauen will, wird sich mit Fragen der Kreditbedingungen, der Wohnbauforderung, der Grundstückspreise, der Baumaterialien, der Innenausstattung, usw…. eingehend auseinanderzusetzen haben. Anders und wesentlich komplizierter wird die Bestandsaufnahme sein müssen, die der Entscheidung über den Bau einer Großanlage, etwa einer U-Bahn, ‘vorausgehen muß. In jedem Fall muß aber eine solche Diagnose erstellt werden.

Die Prognose ist eine der wichtigen Folgen jeder Diagnose. Sie ist eine Aussage darüber, wie sich die Dinge voraussichtlich entwickeln werden. Prognosen lassen sich vernünftigerweise nur dann erstellen, wenn ausreichendes Wissen über wichtige Zusammenhänge besteht und wenn zurecht vermutet werden kann, daß diese Zusammenhänge auch in Zukunft gültig sein werden. Wenn ich z. B. einen Stein aus meinem Fenster fallen lasse, so kann ich auf Grund der Kenntnis der physikalischen Gesetze Vorhersagen, nach welcher Zeit und wo der Stein aufschlagen wird. Stillschweigend nehme ich bei dieser Prognose an, daß die Fallgesetze auch zum Zeitpunkt des Wurfes noch gelten werden.

Aus der Gegenüberstellung von Prognose und Wunschvorstellung, von erwarteter und erwünschter Zukunft entsteht die Einsicht, ob ein Eingreifen notwendig wird oder nicht. Deckt sich die erwartete Entwicklung mit unseren Hoffnungen, so können wir jede regulierende Maßnahme unterlassen. Stellen wir allerdings fest, daß mit größeren Abweichungen von unseren Wünschen zu rechnen ist, wird es notwendig sein, einen Plan, eine StAtegie zu entwickeln, die durch gezielte Eingriffe den Sollzustand erreichen läßt.

Manchmal zeigt sich im Zuge dieser Planerstellung, daß mit den bestehenden Mitteln und Kenntnissen, das gewünschte Ziel nicht erreichbar ist. Revisionen der Zielvorstellungen sind die Folge, das Wunschbild erweist sich als unrealisierbar. Abstriche vom Ziel werden vor edlem bei Anliegen von geringerer Bedeutung akzeptiert werden. Stellt man aber fest, daß ein Ziel so bedeutsam ist, daß von seiner Realisiserung nicht Abstand genommen werden kann, so güt es menschliche Kreativität und Erfindungsgabe zu mobilisieren, um neue Mittel und Wege ausfindig zu machen.

Utopie, Diagnose, Prognose und Planung sind also die Säulen auf denen unser in die Zukunft gerichtetes Handeln ruht.

Wie ist nun, nach diesen Überlegungen, die Haltung des Pessimisten einzuordnen. Im allgemeinen handelt es sich um Personen, die einen ziemlich klaren Blick für die Realität rund um sich herum haben. Sie diagnostizieren - häufig mit allzu großer Ausschließlichkeit -, daß vieles in der gegenwärtigen Situation und in der vergangenen Entwicklung Anlaß zu berechtigter Sorge gibt.

Was nun aber ihre Aussagen für die Zukunft anbelangt, neigen sie dazu, die gegenwärtige Lage unbesehen in die Zukunft zu übertragen, womöglich noch eine weitere Verschlechterung zu erwarten. Sie leugnen im allgemeinen die dynamische, verändernde Kraft, die von einer intensiv erwünschten Zielvorstellung ausgelöst wird. Dabei dpnke man doch bloß an die Fülle von ungeahnten Entwicklungen, die von letztlich doch eher begrenzten Zielvorstellungen, wie der bemannten Mondfahrt ausgegangen sind!

Ja, werden die Pessimisten einwenden, aber der Mensch verfolgt eben stets nur niedrige Ziele, verfängt sich im Materialismus, drängt nur zur Macht und Befriedigung egoistischer Bedürfnisse. Außerdem sei unser gegenwärtiges System schon so verfilzt und starr, daß selbst ein faszinierendes Ideal keine ausreichenden Kräfte mehr mobilisieren könnte.

Pessimismus bleibt also im heute und gestern befangen, verlängert’ konsequent negative Trends in die Zukunft und traut der gegensteuem- den Wirkung überlebensträchtiger Leitvorstellungen keine entscheidende Wirkung zu. Nietzsche sprach vom Strom, „der sich nicht mehr besinnt”. Pessimisten haben das Eintreten von negativen Erscheinungen immer schon gewußt und sie neigen dazu dieses Vorauswissen als intellektuellen Vorsprung gegenüber den anderen zu genießen.

Und wie steht es mit den Optimisten? Bei ihnen ist die Versuchung groß, es mit der Diagnose, der Beobachtung der Realität nicht allzu ernst zu nehmen. Sie stehen unter dem Eindruck des Fortschritts in der Vergangenheit, beschränken ihre Sicht auf die positiven Aspekte der Gegenwart und sind von der Überzeugung durchdrungen, daß für jedes Problem eine Lösung gefunden werden wird.

Ihre Prognose steht fest: Hat der Mensch bisher Probleme gemeistert, wird er es auch in Zukunft tun; Probleme heute überzubewerten, ist krankhaft. Erweisen sie sich nämlich in Zukunft als bedeutsam, werden sicher Mittel und Wege gefunden werden, sie rechtzeitig zu lösen. Sehr anfällig für diese Einstellung sind manche Technokraten, die von zukünftigen technischen Entwicklungen alles Heil erwarte:}.

Der Pessimist beschäftigt sich nicht mit dem, was sein könnte, sein sollte, weil er zu wissen glaubt, was sein wird. Der Optimist vernachlässigt die nüchterne Sicht auf das Heute, weil er überzeugt ist, daß im Morgen alles Heil ruht. Er verhindert mit seiner Einstellung das rechtzeitige Erkennen von Gefahren und ist von der falschen Hoffnung genährt, daß durch Gegensteuern alles stets rechtzeitig wieder in Ordnung gebracht werden kann. Die Unterzeichner des Münchner Abkommens waren ebenso Optimisten wie der Kapitän der Titanic.

Und der Ausweg? Die Welt braucht heute nüchterne Realisten, Menschen, die nicht vor den anstehenden Problemen die Augen verschließen. Es gilt zu erkennen, welche Probleme in unserer Zeit besonders drängend sind. Diese Einsicht darf aber nicht Selbstzweck sein, sondern muß zur Herausforderung werden, die Dinge zu ändern.

Und die Richtung dieser Änderung? Sie muß von einer möglichst klar erkannten Zielvorstellung hergeleitet werden. Die Realisten, von denen wir uns eine positive Gestaltung der Zukunft erwarten können, müssen auch Utopisten sein. Alle di- jenigen, die erfolgreich in unserer Gesellschaft wirken wollen, müssen eine Sicht der Welt von morgen vor Augen haben, die den ganzen Menschen anspricht. Es gilt, die Dynamik, die von einem faszinierenden Leitbild von erfülltem menschlichen Leben ausgeht, dazu zu nutzen, unsere heutige - teilweise besorgniserregende - Situation, bewußt zu gestalten, gerade auch, wenn dabei große Schwierigkeiten zu bewältigen sind.

Solche utopische Realisten sollten wir alle werden!

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