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Realität des Irrealen

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Es war in Nazareth, in einem Saal des Kulturklubs. „Arbeiter-dichter und Schriftsteller lesen aus ihren Werken vor“, war das Thema des. Abends. Ungefähr hundert zumeist jüngere Deute, Studenten und Abiturienten, darunter einige Mädchen, lauschten den Vorlesungen. Anwesend war ein Dutzend Schriftsteller und Dichter. „Unser Blut schreit aus der Erde, unser Blut gab uns einen Befehl: nicht zu vergessen. Nicht vergessen, daß wir von unserer Scholle vertrieben wurden. Nicht vergessen, daß unser Boden geraubt wurde. Nicht vergessen, daß unsere Brüder vertrieben wurden. Nicht vergessen, daß die Juden in unserem Lande sind“, so lautete ein Gedicht.

Nazareth befindet sich im Staate Israel, es ist kein besetztes Gebiet, sondern ein integraler Teil dieses Landes. Die Dichter und Schriftsteller waren israelische Araber, die hier geboren wurden, hier ihre Erziehung erhielten und hier ihre Geistesprodukte veröffentlichen können. Ein Fremder hätte meinen können, er befinde sich im Kreis einer Untergrundbewegung. Aber die Wirklichkeit ist anders.

Heute, sieben Jahre nach dem Krieg, sind arabische Arbeiter aus den besetzten Gebieten fast in allen Sektoren der Wirtschaft Israels beschäftigt. Die Wirtschaft der besetzten Gebiete ist fast völlig integriert, den Einwohnern Cisjordaniens und des Gazastreifens ist es noch nie so gut gegangen wie heute. Trotzdem wollen die Araber „das Gesicht wahren“ und müssen daher vorgeben, daß sie sich mit der Besetzung und mit dem jüdischen Staat nicht abgefunden haben. Man findet in der arabischen Presse Cisjordaniens immer wieder scharfe antiisraelische Artikel mit antiisraelischen Karikaturen. Laiengruppen führen antiisraelische Stücke auf und erhalten starken Applaus. Von Zeit zu Zeit gibt es einen Streik der Geschäfte oder Schulen. Man will die Besatzer daran erinnern, daß man nicht so ohne weiteres zur Tagesordnung übergehen kann. Cisjor-danien und der Gazastreifen werden von Offizieren verwaltet. Araber sind Exekutivbeamte, doch die Leitung liegt nach wie vor in Händen der Israelis. Der Versuch, wenigstens einen Teil dieser leitenden Positionen an Araber abzugeben, ist gescheitert.

Manchmal gelingt es mir, mit meinen arabischen Freunden auch über die Zukunft zu sprechen, über einen Frieden, der zustande kommen werde, und über ein friedliches Zusammenleben. Dann erhalte ich meistens verwunderte Blicke, als ob ich von einem anderen Planeten käme. Ihr nationaler Stolz läßt es einfach nicht zu, mir recht zu geben. Sie wollen wenigstens ein Ritual des Widerstandes aufrechterhalten.

Der Araber ist der Sohn einer großen Nation. 20 arabische Staaten mit einem unbegrenzten wirtschaftlichen Potential stehen hinter ihm. Fast die ganze Welt gibt den Arabern recht. Wer behauptet, daß das Fortbestehen Israels gesichert sei, ist in seinen Augen ein Phantast.

Die Israeli betonen immer wieder die Zusammenarbeit der Araber mit Israel und den daraus für die Araber entstandenen wirtschaftlichen Fortschritt. Es handelt sich dabei aber nur um einen Teil des Gesamtbildes, zu dem auch der ideologische Widerstand gegen den israelischen Staat gehört. Die israelische Behauptung, daß zwei Drittel der hiesigen Araber zionistische Parteien zu den Parlamentswahlen wählen, ändert nichts an diesem Bild. Es handelt sich um einen östlichen Realismus des Irrealen.

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