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Realitätsfremde Bürger

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„Jede politische Bildung, die auf einem anderen Weg als über die Vernunft Einstellungen und Verhaltensweisen erzeugen, verhindern oder verändern will, wird zur Manipulation.“

Je größer der Grad der Kritikfähigkeit, desto geringer sind die Chancen der Praktizierung der Gefälligkeitsdemokratie, die vordergründig jedem Recht gibt, über tatsächliche Zusammenhänge jedoch den Grauschleier der Unmündigkeit breitet.

Das Vollpfropfen mit Lexikonwissen in unseren Schulen ist also zweifellos der falsche Weg bei der Vermittlung von politischer Bildung. Nicht zuletzt mußte die ehemalige „Staatsbürgerliche Erziehung“ an ihrer Realitätsfremde auch zum Teil scheitern.

Zwar wurden mit der Schulreform 1962 die Fächer „Geschichte und Sozialkunde“ sowie „Geographie und Wirtschaftskunde“ als Verbesserung eingeführt. Diese Gegenstände haben zweifellos ihre Berechtigung im Unterricht, mit politischer Bildung haben sie jedoch nichts zu tun.

Als die Widerstände gegen diese Fächer zunahmen, ließ man sich im Ministerium endlich etwas Neues einfallen. Aber die erfolgreiche Einführung des Gegenstandes „Sozial-und Wirtschaftskunde“ an den musisch-pädagogischen Realgymnasien wurde durch die Sistierung des 9. Schuljahres beendet.

Jetzt aber dürfte es ernst werden. Ein Unterrichtsgegenstand mit gleicher Bezeichnung ist für den polytechnischen Lehrgang vorgesehen. Hiebei wird die Zeitgeschichte mit einbezogen und durch das Fach „Lebenskunde“ ergänzt...

Für die allgemeinbildenden höheren Schulen gibt es ab dem laufenden Schuljahr in der achten Klasse „Geschichte und Sozialkunde — Geographie und Wirtschaftskunde“ sowie eine (allerdings freiwillige) Übung mit dem Titel „Politische Bildung“ in der 7. und 8. Klasse.

In den berufsbildenden Schulen sollen die Gegenstände „Rechtslehre“, „Volkswirtschaftslehre“, „Staatsbürgerkunde“ usw. in Richtung einer echten politischen Bildung weiterentwickelt werden. „Sozialkundliche Wochen“ gibt es bereits an den technisch-gewerblichen Lehranstalten.

Es kann aber keinem Zweifel unterliegen, daß sich die Verwirklichung der politischen Bildung an den Schulen nicht allein in der Schaffung neuer Unterrichtsfächer erschöpfen kann.

Eine entsprechende Aus- beziehungsweise Fortbildung der Lehrer ist die Voraussetzung für eine Einführung überhaupt. Wie sehr die Dinge hier im argen liegen, hat die Vergangenheit gezeigt. Bisher wurden junge Menschen mit einigen wichtigen Artikeln der Bundesverfassung, dem Wahlrecht, den Grundrechten usw. gefüttert, um wenig später das Auseinanderklaffen zwischen Theorie und Praxis erkennen zu müssen. Freilich bringt gerade die politische Realität durch ihre Komplexität Schwierigkeiten bei der Aufbereitung des Lehrstoffs mit sich; soziale, ökonomische, soziologische, juristische und historische Aspekte sind zu berücksichtigen. Je nach Bildungsgrad muß daher, neben die Vermittlung des erforderlichen Begriffsapparates, eine gezielte, schwerpunktartige Stoffauswahl treten, an Hand der einzelne Probleme behandelt werden, um somit ein Problembewußtsein zu vermitteln.

Uber die Untersuchung dieser Phänomene gelangt der Lernende dann zu einem realitätsbezogenen Demokratieverständnis, das auch Freude zum persönlchen Engagement — in welcher Form immer — vermittelt. Resultiert doch die weitgehende Apathie der Politik gegenüber weitgehend aus der Uninfor-miertheit, und bildet gerade diese Frustration den besten Nährboden für einen neuzeitlichen Anarchismus, der unter dem Deckmäntelchen der Demokratisierung die Verunsicherung und Beseitigung der öffentlichen Herrschaftsorganisation zum Ziel hat und diese durch unkontrollierte und unkontrollierbare private Machtausübung ersetzen will. (Eine unerfreuliche Entwicklung, durch die auch durchaus wünschenswerte Bestrebungen auf dem Gebiet der Demokratiereform in Mißkredit gebracht werden.)

Als dritte wesentliche Voraussetzung muß die Beachtung modernster pädagogischer und didaktischer Kenntnisse angesehen werden. Hier reicht der Bogen vom Einsatz moderner technischer Mittel (z. B. Vdieo-recorder) über eine gezielte Stoffauswahl bis zu bestimmten formalen Erfordernissen (z. B. die Absage an das traditionelle Lehrstoffvermittlungssystem via Vortrag zugunsten einer Erarbeitung des Stoffes in Diskussionsgruppen).

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