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Realverfassung

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Die Art und Weise, wie die Republik Österreich am 1. Oktober des 70jährigen Be- standes ihrer Verfassungsord- nung gedachte, war symptoma- tisch. Eine Festsitzung des Mi- nisterrates am Vormittag, ein recht gebalt- voller Fest- akt des Ver- fassungsge- richtshofes am Nach- mittag - das war es.

Die österreichische Öffent- lichkeit blieb dem Jubiläum gegenüber gleichgültig, die politische Tagesordnung hat wahrhaft Spannenderes zu bie- ten.

Wenn man dem Grundsatz huldigt, daß eine Verfassung dann gut ist, wenn man über sie wenig redet, ist die österreichi- sche Bundesverfassung ein besonders gelungenes Werk. Und in der Tat, sie hat seit ih- rem Entstehen einen ganz pas- sablen Rahmen für unser Staatswesen abgegeben, sie hat vor allem seit 1945 ein erhebli- ches Maß an politischer Konti- nuität gesichert und die Wei- terentwicklung einer demo- kratischen Rechtsordnung er- möglicht. Ihre „Spielregeln" sind im großen und ganzen ak- zeptiert.

Dieses positive Zeugnis für die Grundordnung unseres Staatswesens kann aber eine kritische Sicht nicht verdrän- gen. Die durch die Verfassung gezogenen rechtlichen Schran- ken der Macht sind nur in Tei- len unseres politischen Systems wirksam. Daneben gibt es eine „Realverfassung" - sie wird immer häufiger beschworen -, das heißt, eine politische Wirk- lichkeit, die sich nach ihren eigenen Gesetzen abspielt und deren Qualität gerade dadurch begründet wird, daß sie nicht den geschriebenen Regeln einer Konstitution folgt.

Die oft gerühmte Sozialpart- nerschaft ist ein plakatives Beispiel dafür. Die Besonder- heiten unseres Kammer- und Parteienstaates sind im allge- meinen auch dieser Realverfas- sung zuzuordnen.

Bis heute hat man in Öster- reich ganz gut mit diesem Dua- lismus von Verfassungsnorma- tivität und Verfassungsrealität gelebt. Brauchen wir überhaupt Reformen?

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