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Rebellion der Hoffnungslosen

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Was zwei lange blutige Wochen die Einwohner des Königreiches in Atem hielt, wiederholt sich am dritten Wochenende mit ungeminderter Heftigkeit im Nachbarstaat, der irischen Republik. Der neue Premier, Garret Fitzgerald, ist mit einem Schlag durch dieselben Unruhen wie London konfrontiert, wenngleich das Motiv eindeutig anderswo zu suchen ist.

Die nationale irische Polizei, Garda, stellt sich, 1500 Mann stark, dem randalierenden Mob entgegen, der auf die britische Botschaft stürmt, und wird damit zur Zielscheibe von Benzinbomben, Steinen, Flaschen und Molotow- cocktails. Aber die irischen Ordnungshüter haben von ihren britischen Kollegen gelernt, eine neue Technik zur Bekämpfung des Aufstandes angewandt.

Die zehnfache Übermacht der Demonstranten, die als Protest zugunsten der Hungerstreiker im Belfaster Maze- Gefängnis die diplomatische Vertretung Londons ausräuchern will - wie schon einmal vor neun Jahren -, kommt gegen die geschlossene Front nicht durch.

Die Polizei setzt zum handfesten Gegenangriff an, prügelt, schlägt zurück, beantwortet Gewalt mit Gewalt. Der Schlagstock in der Hand des irischen Polizisten erweist sich wirksamer als Wasserwerfer, Tränengas und Plastikkugeln. Die Unruhen werden unterbunden, noch bevor größerer Schaden angerichtet ist, keine verletzten Polizisten, keine Verhaftungen.

Auf der anderen Seite der Inselgruppe, im englischen Hauptland, hatte die Polizei erst ihre wirksame Einstellung gegen Terror und Massenwut zu finden.

Zu Beginn, im Westlondoner Emigrantenbezirk Southhall oder im Liver- pooler Farbigengetto Toxteth verhält sich die Ordnungsmacht zurückhaltend, zögernd und abwartend, erlaubt es der anstürmenden Menge, sich zu sammeln und zu organisieren, statt den

Tumult im Keim schon zu ersticken. Das entspricht der britischen Einstellung von Ordnung und Recht, stets darauf bedacht, das Vertrauen der breiten Bevölkerung zu erhalten, jeden Anschein des Offensiven zu verwischen.

Diese defensive Einstellung kostet den britischen Bobbys den größten Blutzoll, die Zahl der zum Teil schwer verletzten Polizisten übersteigt die Opfer auf der „Gegenfront“.

Mit der nötigen Zurückhaltung stellt sich auch die Regierung auf die Welle der Gewalt ein, versucht, den Hütern des Gesetzes jenen Schutz zu geben, den sie lange entbehren mußten. Endlich stehen den Uniformierten, die sich durch Plastikschiider decken und wie eine geschlossene Phalanx vorrücken, Wasserwerfer zur Verfügung, die in anderen Ländern Wunder der Abkühlung bewirken.

Die Bevölkerung’ wiederum sucht entgeistert, cingeschüchtert und schok- kiert Erklärungen für diese Unruhewelle, die 1981 zum Jahr der Schande gemacht hat. Sie traut der kurzen [ „Waffenruhe“ nicht, die nach zwei blutigen Wochenenden eingesetzt hat.

Neue Bombenwerfer und Radaubrüder im Dienste von extremen Organisationen oder aus Unmut über Rassendiskriminierung kommen bestimmt. Eine besser ausgerüstete und effektivere Polizei wirkt letztlich kaum als Abschreckung.

Bisher haben die Unruhestifter vor allem in ihrem eigenen Wohnbezirk gewütet, sei es, wie in Southhall, um als Selbstschutz weiße Eindringlinge zu verscheuchen, oder wie in Manchester, Brixton oder Liverpool den verhaßten Ordnungshütern einen Denkzettel zu verpassen. Aber die Gewalttäter merken nur zu bald, daß letztlich die Nachbarn und unmittelbaren Anrainer zu Schaden kommen.

So bleibt zu erwarten, daß sich die Unruhestifter anderswo ein Exerzierfeld der Gewalt suchen, etwa dort, wo die

Begüterten wohnen und wo für Plünderer weit mehr zu holen ist als beim armen Mitbewohner.

Warum heute ein solcher Ausbruch von Gewalt? Diese Frage beschäftigt den Durchschnittsbürger, der der Zukunft mit beängstigender Unsicherheit entgegensieht, genauso wie Kommentatoren und Soziologen. Wäre diese Frage eindeutig zu beantworten, dann könnte auch ein klares Rezept zur Vorbeugung gefunden werden. Aber zu viele Motive suchen ihren Ausdruck im Aufstand.

In Großbritannien revoltiert die Jugend, die, zumindest wenn sie weißer Hautfarbe ist, in den sechziger- und siebziger Jahren verwöhnt wurde und sich einer von Autorität und autoritären Übergriffen freien Erziehung rühmen kann. Die schwarzen Teenager stehen auf, weil siegegen ihre ärmliche Behausung, gegen unfreundliche Umwelt und gegen rassische Benachteiligung kämpfen.

Die Jugend ist es, die unter der Arbeitslosigkeit am meisten zu leiden hat, kaum Stellen findet, wenn sie die Ausbildung abgeschlossen hat. Hoffnungslosigkeit ist der beste Boden für den Aufruhr. Verlust des Leitbildes, ob dieses nun durch die Familie oder die Kirche geliefert wird, führt zu Anarchie, läßt blinder Zerstörungswut freien Lauf.

Mittellosigkeit, innere Leere und Haltlosigkeit sind schließlich mit Gründe, die zu einer wachsenden Kriminalität führen, die London und Manchester zu den unsichersten Städten Europas machen, die alte Leute und Gebrechliche bedrängt. Alte Sünden und Fehler wirken sich heute aus.

Die Regierung ist durch die Ausbreitung von Gewalt und Unruhe schwer unter Druck gesetzt. Der Angriff kommt von einer Seite, die wenig abgesichert scheint: von einer Jugend, welche nach dem Sinn ihres Lebens sucht.

Die andauernde ökonomische Krise muß zu einer Verschärfung der sozialen Spannungen führen, die alle vernünftigen politischen Lösungsversuche von vorneherein zum Scheitern verurteilen. Die Geschichte - etwa der Zwischenkriegszeit in Europa - weist mit erschreckender Deutlichkeit darauf hin, wie eng ökonomische Basis und die Lebensfähigkeit der Demokratie Zusammenhängen.

Polen hat seinen außerordentlichen Parteitag in außerordentlichen Zeiten mit teils außerordentlichen, teils voraussehbaren und „normalen" Ergebnissen hinter sich gebracht. Aber es wird noch außerordentlicher Anstrengungen bedürfen, damit eintritt, was sich die Polen selbst erhoffen und ihnen die ganze Welt wünscht: eine ordentliche, ruhige, von außen nicht gefährdete Fortentwicklung eines des faszinierendsten politischen Experimentes nach dem Zweiten Weltkrieg und die Rückkehr eines für Europa so wichtigen, wertvollen und sympathischen Landes zur Normalität.

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