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Recht auf Eigenleben

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Mitte Mai verabschiedeten Vertreter von 35 nationalen Minderheiten in Genf 20 Hauptgrundsätze für ein europäisches Volksgruppenrecht: Einigkeit macht stark.

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Mitte Mai verabschiedeten Vertreter von 35 nationalen Minderheiten in Genf 20 Hauptgrundsätze für ein europäisches Volksgruppenrecht: Einigkeit macht stark.

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Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg schien das Problem der „nationalen Minderheiten”, wie man sie heute noch da und dort, aber immer seltener nennt, zunächst gegenstandslos geworden. Aber schon relativ bald organisierten sich die noch immer vorhandenen oder durch den Kriegsausgang erneut auf den Plan tretenden Volksgruppen (ethnischen Minderheiten) zunächst in der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen (FUEV) in Kopenhagen bzw. Flensburg, der heute zahlenstärksten Dachorganisation von ethnischen Minderheiten Europas, später in der A. I. D. L. C. M. (Association internationale pour la defense des lang-ues et cultures menacees — Internationale Vereinigung zum Schutz bedrohter Sprachen und Kulturen) in Perpignan und Chur und ab 1977 auch noch im „Inter-eg” (Internationales Institut für Nationalitätenrecht und Regionalismus, München).

Diese drei Organisationen beschlossen nun, den Europäischen Nationalitätenkongreß wiederum fortzusetzen und beriefen den 15. Kongreß für Mai 1985 nach Genf ein.

Dieser Kongreß übertraf alle Erwartungen, obwohl ja mit Ausnahme von Volksgruppen aus Jugoslawien und den praktisch ins Exil verbannten Sudetendeutschen und den Kossovaren (Albaner in Jugoslawien), die auch nur im Exil sich artikulieren können, aus den Ostblockstaaten keine Volksgruppen vertreten waren.

Immerhin waren 35 verschiedene Volksgruppen vertreten, darunter auch solche, die es in der Zwischenkriegszeit in organisierter Form auf den Kongressen nicht gegeben hatte (Bretonen und Okzitanier sowie Basken aus Frankreich, Galicier aus Spanien, Rätoromanen aus der Schweiz, Flamen und Wallonen aus Belgien, Iren aus Nordirland usw.).

Man muß bedenken, daß heute es geradezu zu den Selbstverständlichkeiten gehört, daß Volksgruppen international zu fördern sind und es gibt ja auch bereits umfangreiche Entwürfe sowohl der EG (Europäisches Parlament) wie des Europarates, Kommission der Gemeinden und Regionen, für eine Europäische Charta zum Schutz ethnischer Gruppen und Minderheitssprachen, wobei sich kürzlich sogar die Vereinten Nationen, Menschenrechtskommission, entschlossen haben, eine internationale Charta zum Schutz ethnischer Minderheiten zu schaffen, die im Jahre 1986 ihre Arbeitsergebnisse vorlegen soll.

Daher nimmt es auch nicht wunder, daß unter den rund 120 Teilnehmern des Genfer Kongresses auch eine Vielzahl von Organisatiorien von teilweise eher hohem Rang sich vertreten ließen und an den Debatten beteiligten: so vor allem das European Bureau for lesser used languages (Europäisches Büro für weniger gebräuchliche Sprachen) in Dublin, das zum Europäischen Parlament gehört und von dort gefördert wird, die Londoner Minority Rights Group oder die Gesellschaft für bedrohte Völker in Göttingen oder die Wiener Gesellschaft für Volksgruppenfragen, die alle vertreten waren.

Das wichtigste Ergebnis des Kongresses war die Vorlage und Kenntnisnahme der neu formulierten „Hauptgrundsätze eines Europäischen Volksgruppenrechts”, die ursprünglich von der FUEV ausgearbeitet worden waren, jetzt aber von allen drei einladenden Dachorganisationen in monatelanger Vorarbeit formuliert wurden und für eine ehe längere Zukunft die Grundlage für ein „Europa der Völker” abgeben sollen. Dabei steht der Föderalismus an der Spitze aller Thesen, die darin niedergelegt sind.

Diese neu gefaßten „Hauptgrundsätze eines Europäischen Volksgruppenrechts” sind in 20 Artikel gegliedert und sollen als Magna Charta eines modernen europäischen Volksgruppenrechts dienen. Sie gehen über das hinaus, was die 1967 geschlossenen alten „Hauptgrundsätze” der FUEV enthalten hatten. Grundlegend ist Art. 1, der da lautet „Jede ethnische Gruppe (nationale Minderheit) oder Volksgruppe -im folgenden Gruppe genannt — die durch Merkmale wie eigene Sprache, Kultur oder Traditionen gekennzeichnet ist, hat sowohl auf internationaler als auch auf innerstaatlicher Ebene das unabdingbare und unverletzliche Recht darauf, als nationale, ethnische und kulturelle (sprachliche) Einheit anerkannt zu werden.”

In den weiteren Artikeln wird die Wahrung der Identität einer Volksgruppe festgelegt — das ist ein sozusagen neuer Begriff, der sich im internationalen Recht immer mehr durchsetzt — und wird gefordert, daß der Heimatboden einer Volksgruppe nicht unterwandert wird und daß im Schulunterricht in diesen Gebieten auch Kultur und Geschichte der

VolksgruppeTeil des Unterrichts bilden.

Autonomie, sei es territoriale, sei es (für Streuminderheiten) personelle, ist zu gewähren. Das Bekenntnis zu einer Volksgruppe soll grundsätzlich frei sein, aber die Staaten müssen die Voraussetzung für ein solches freies Bekenntnis schaffen.

Diese Bestimmung war sehr umstritten, weil die Kärntner Slowenen wegen des ungeheuren Druckes, der auf sie vom Mehrheitsvolk und seinen Vertretern ausgeübt wird, sich nicht als Slowenen zu bekennen, an sich dagegen waren, das Bekenntnisprinzip festzulegen. Mit der Kompromißregelung haben sie sich aber einverstanden erklärt.

Der Autor leitet die Forschungsstelle für Nationalitätenrecht und Regionalismus der Universität Innsbruck.

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