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Reflexionen

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„Niedergestimmt...! das Ende meiner Parteikarriere ... habe mir alles zu leicht vorgestellt... oder bin ich doch unsicher gewesen ... das Ganze falsch angepackt... wie mich Christian gestern angerufen hat, hab' ich alles klar vor mir gesehen ... nein, ich muß unsicher gewesen sein ... den Widerwillen der anderen, Marionetten zu sein, unterschätzt ... mir alles so ausgemalt wie in der Sektionsversammlung in Belleville... ich müßte gespürt haben, daß sie gegen mich waren ... niedergestimmt... es war doch zu überhetzt... als Christian sagte: du, Molissier, das ist so und so, wir sind für ein Nein beim Referendum, da war alles klar... ich hätte doch gestern nicht zusagen dürfen, das Referat zu übernehmen ... einfach nicht mehr in den Griff bekommen ... war es doch wider mein besseres Wissen ... ? durchgedreht... nicht einmal ein Wort des Bedauerns haben sie nachher für mich gehabt... natürlich, man kann allem möglichen die Schuld geben, aber vor sich selbst... vor sich selbst ist man auf der Strecke geblieben .. .*'

„Hier Mervan — jaaa, Christian Mervan — jaa, ich selbst! — ich möchte Lagrange — nicht da? — er muß im Haus sein! — verbinden Sie mich mit dem Sekretariat — Henri, ist Lagrange da? — Jacques, na endlich, hier Christian, als hör zu: gerade hat mich Maxime angerufen. Molissier ist gestern in der Sitzung der Bezirksausschüsse niedergestimmt worden — nein, es ist ihm nicht gelungen, sie zu überzeugen, daß die Partei beim Referendum geschlossen mit Nein zu stimmen hat

— ja, sie waren für Stimmenthaltung — 93 gegen 2 — Molissier muß das Ganze falsch angepackt haben — warum ich nicht? — ging nicht — mußte nach Thiais — na ja, du weißt schon — nein, ich mußte wirklich — verheizt sagst du? Molissier? Nein, Jacques, Ehrenwort. Hör zu: es muß geschlossen mit Nein gestimmt werden — na, das weißt du doch — nicht — na, dann sag ich dirs später

— was? du bist auch für Stimmenthaltung? — Aber das ist doch Unsinn! — Molissier? Uninteressant. Laß ich abwählen. Wird zum Sortieren von Karteikarten verwendet.“

„Auf der Strecke geblieben... ich steh das nicht durch... mit wem kann ich reden, daß ich damit fertig werde... ? Mervans? Sinnlos ... Dorin? Wird die Achseln zucken und sagen: das hättest du früher wissen müssen, Molissier... Rateau? Wird sagen: Kopf hoch, geht vorüber... Lagrange ... Jacques. Wie lange hab ich ihn nicht mehr gesehen? Müssen fast sechs Jahre sein. Ja 66, Juli 66. Warum ich mir immer alles so genau merke ... ? Stellvertretender Generalsekretär der Partei, Licencte an der Facult6 des Sciences ... soll ich in der Parteizentrale ... ? nein, lieber bei ihm zu Hause... früher hat er bei der Porte St. Denis gewohnt, in der Rue de l'Echiquier ... aber die Partei hat ihm doch eine Villa in Meudon verschafft... wo ist das Telephon ... Lagrange ... Jacques, licencie, 33 Rue de l'Echiquier... 77 29 843... Lagrange? Jacques? Hier Molissier, ja Paul Molissier — erinnerst du dich noch an mich... ? Ja — ich möchte dich sprechen — du hast Zeit? — jetzt!? — ja, ich komm zu dir.“

„Jacques.“

„Paul. — Ich könnte jetzt sagen: warum bist du nicht schon längst zu mir gekommen? Aber ich muß zu mir sagen: warum habe ich dich nie aufgesucht? — Du wunderst dich, daß ich noch immer hier wohne ... ja, ja, Meudon ... das erste war, daß ich den Gärtner entlassen habe; das heißt, entlassen ist nicht der richtige Ausdruck, ich hab' ihm eine andere Stelle verschafft; war nicht leicht, denn er sollte nicht weniger verdienen als in Meudon... es ist mir gelungen; im Jardin des Plantes. Die Villa? Ist jetzt ein Kindergarten. Ja. Wie hätt ich dort wohnen können? Stell dir doch vor: im benachbarten Clamart ist die neue Großsiedlung entstanden, riesige Wohnblocks, jeder 12 Stockwerke. Auf 1,2 Quadratkilometer 27.000 Menschen. Alles haben sie hingebaut: Garagen, Supermärkte, Bankfilialen, Selbstbedienungsrestaurants, Münzwäschereien, Parteilokale für die Mehrheitspartei — nur zwei Dinge haben sie vergessen: eine Volksschule und einen Kindergarten. Die Siedlung hat 10.000 Kinder, davon 2500 im schulpflichtigen Alter. Die sogenannten Schlüsselkinder laufen den ganzen Tag mit den Schlüsseln um den Hals, manche sogar mit angehängtem Glöckchen auf den Straßen herum, zwischen Lastautos und Motorrädern. Unsere Partei hat der Gemeindeverwaltung angeboten, einen Kindergarten und einen Hort zu bauen; wir haben keine Genehmigung bekommen. Und da glaubst du, hätte ich, dreihundert Meter davon entfernt, in einer Villa schlafen können, mit Garten — und Gärtner?

Paul, ich weiß, warum du kommst. Sie haben dich in der Sitzung der Bezirksausschüsse niedergestimmt. Ja, Mervan hat mir's gesagt. Ich weiß, es ist für die Partei eine schwere Frage, ob wir unseren Wählern raten sollen, mit Nein zu stimmen oder wir Stimmenthaltung empfehlen sollen. Mervan ist für Nein beim Referendum, er will sich dann die Stimmenthaltung in der Kammer für etliche Aufsichtsratsitze und ähnliche Posten abkaufen lassen ... Und in dieser Mühle wirst du zerrieben. Wenn es dir ein Trost ist, ich auch, denn ich habe Mervan heute zu verstehen gegeben, daß ich für Stimmenthaltung beim Referendum eintrete. — Aber alles das ist in meinen Augen völlig belanglos. Wesentlich ist, ob wir als Menschen glaubwürdig sind, danach wird dann die Sache beurteilt, die wir vertreten. Paul, sieh doch her, es geht nicht um Eintagsprobleme wie Nein oder Stimmenthaltung beim Referendum, sondern darum, ob uns die Menschen das abnehmen, was wir sagen — oder ob sie denken, daß wir nur Programme plakatieren und in Wirklichkeit um Posten, Positionen und Machtsphären ringen. — Paul, warum sind wir damals in die Resistance gegangen? Achtzehn Jahre waren wir, als wir unsere erste Widerstandsgruppe gründeten, Winter 41, am Boulevard Strasbourg, in dem kleinen Tabac ... erinnerst du dich noch?“ „Ja, Jacques. Am 15. Februar. Im Tabac de la Scala. Zwei Stunden nachdem sie in der Rue Tournefort Raoul verhaftet hatten —“

„Unsere Gruppe, die Gruppe Renard. Wir fühlten uns zum erstenmal seit der Niederlage wieder frei. Und wir gaben einander das Versprechen: Ja zum Leben und Nein zum Unrecht! Für ein menschenwürdiges Leben und gegen jedes Unrecht wider die Menschenwürde. Und du weißt noch, wie schwer das war in den Jahren 41 und 42, wie wir um alles und um jeden kämpfen mußten in einer Welt von Pessimismus, umgeben von Gleichgültigen, Defätisten, Spitzeln, Kollaborateuren und Feinden, nirgends festen Boden unter den Füßen, täglich Verhaftungen und Deportationen und kein Ende, kein Erfolg abzusehen. Damals sind wir beide nicht weiß geworden. Und was hat sich seither geändert? Nichts. Heute kämpfen ein paar von uns auf scheinbar verlorenem Posten gegen Korruption, Opportunismus und Gesinnungsschwund. Die Erfolgschancen? Utopie meinst du? Jeden Tag frage ich mich: Bin ich wirklich der, den die andern in mir sehen oder sehen wollen, bin ich so, daß das glaubwürdig ist, was ich sage, nehmen sie mir große Worte wie Freiheit, Fortschritt, Treue, Brüderlichkeit ab, wenn ich eine Villa in Meudon beziehe? — Mich werden sie morgen wahrscheinlich ausschließen, und du wirst dazu verwendet werden, in der Rue Le Peletier Karteikarten zu ordnen. — Wird das an uns selbst etwas ändern? Ein Freund in der Resistance — er ist dann in Mauthausen ermordet worden und, wie ich viel später erst erfahren habe, ist er katholischer Priester gewesen — hat einmal zu mir gesagt: der Größte unter euch muß wie der Geringste sein und der Vorgesetzte wie der Diener.“

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