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Reform fortsetzen

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Wurde nicht an der Schule schon genug herumgedoktert? Sollte man sie nicht endlich in Ruhe arbeiten lassen? Im folgenden ein Diskussionsbeitrag, der manche Kontroverse auslösen wird.

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Wurde nicht an der Schule schon genug herumgedoktert? Sollte man sie nicht endlich in Ruhe arbeiten lassen? Im folgenden ein Diskussionsbeitrag, der manche Kontroverse auslösen wird.

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Wem die Schule nicht zuerst ein Politikum, sondern ein Ort der Kulturbegegnung der Kinder und Jugendlichen ist, der wird die Situation nicht nach ideologischer Opportunität beurteilen, sondern danach, ob diejenigen Mißstände ausgeräumt worden sind, die den Ruf nach Reform haben laut werden lassen. Walter Berger, der österreichische Nestor der Vergleichenden Erziehungswissenschaft, verweist auf Schlüsselprobleme, die nach wie vor ungelöst beziehungsweise durch formalistische Scheinlösungen nur verdeckt worden sind.

Hinsichtlich der Beurteilungsprozeduren hat ihn seine jahrelange Schulerfahrung in England gelehrt: Das Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer wird umgepolt, wenn der Lehrer in der Zuteilungsorganisation von Sozialchancen namens Schule nicht mehr als Proviantmeister agieren muß, sondern als Lotse aufgesucht werden kann, der die Fahrrinnen finden hilft, die gleichsam auf die hohe See des Geistes führen.

Beeindruckt von der Tatsache, daß englische Lehrer nicht beschwindelt werden, weil sie dem Schüler nicht als Prüfer* sondern > als .Mittler und Helfer erscheinen, sinniert er über die systemgegebenen Defizite einer Erziehung zum mündigen Menschen:

Die Notengebung durch den Lehrer „stellt eine ständige Einladung dar… dem Lehrer um der Note willen nach dem Munde zu reden, was die Entfaltung des kritischen Eigenurteils von vornherein unterbindet“ .

Aber nicht nur wegen dieser Effekte eines geheimen Lehrplans, der unter anderem Unterschleif, Täuschung und gelegentlich sogar Betrug salonfähig macht, plädiert Berger für die Übernahme anderer Beurteilungssysteme. Er * tut dies auch deswegen, weil die nach Kollektivnorm vergebene Ziffemnote im Schul- und Klas-

senvergleich prinzipiell nicht objektiv sein kann.

Wie notwendig hätte es doch der deutschsprachige Raum Mitteleuropas gerade in diesem Bereich, über die Grenzen zu blicken, um die oft sehr frappierenden Alternativen von Nachbarländern zu studieren (vgl. neben England zum Beispiel auch Italien und Dänemark).

Von der Aufhebung der Leistungsschichten, die ab der zweiten Hälfte der Pflichtschulzeit in unseren Landom Tradition geworden ist, spricht Berger als einer Erscheinung, die gewissermaßen der pädagogischen Entwicklung genuin und an und für sich parteipolitisch neutral wäre.

So ungewohnt dies dem Bürger eines Staates in den Ohren klingen mag, dessen Schulpolitik genau von diesem Streitfall gehörig gebeutelt worden, ist—.die Verhältnisse in denideologisch so disparaten Blöcken wie UdSSR und USA (die nie sozialistisch gewesen sind) bestätigen die Aussage.

Den ganzen Schritt zur Integration, weg von den Leistungskursen und hin zum methodischen Arrangement der Passung zwischen der Individuallage des Lernenden und didaktischer Herausforderung wagt Berger freilich nicht zu gehen, weil er darin — trotz des Angebotes an Arbeitsbüchern — eine Überforderung des „Normallehrers“ sieht.

Die Notwendigkeit des Beisammenhaltens der Schüler in der fünften bis neunten Schulstufe wird befürwortet, vorwiegend unter dem Aspekt der Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls, „das

Klassenunterschiede und soziale Spannungen abdämpft und ein neues Bildungserleben aus Nebeneinander, Fühlungnahme und Durchdringung akademisch intellektueller und praktisch lebensnaher Studien erwachsen läßt“ .

Wer am traditionellen Kanon der gymnasialen Oberstufe(n) etwas ändern will, setzt sich schnell dem Verdacht aus, mit einem bestimmten Bildungsbegriff die Bildung insgesamt zu veräußern.

Das wird man Walter Berger schlecht vorwerfen können: zu groß sind seine Anstrengungen im Dienste eines immer tieferen Verständnisses der pädagogischen Probleme; zu überzeugend ist darüber hinaus die Verwurzelt- heit des gelernten (und begeisterten!) Gymnasiallehrers für Latein und Griechisch in der Tradition der abendländischen Bildung.

Die Rücksicht auf die Qualifikationsbedürfnisse der modernen Gesellschaft einerseits und auf die Individuallage des einzelnen Schülers andererseits veranlassen ihn aber, Vorschläge für eine flexiblere Gesamtstruktur der Oberstufe und insbesondere ihrer Abschlußzeremonien zu machen.

Betroffen von der Erkenntnis, daß es allzu vielen Schülern nur auf die Matura ankommt und daß die idealistischen Versprechungen in den Präambeln der Lehrpläne und sonstigen Bildungsprogramme ungedeckte Schecks auf hohe Beträge bleiben, kämpft er für Systemkorrekturen:

Uber vermehrte Wahlmöglichkeiten innerhalb einer Schultype soll es zu einer besseren Abbildung des individuellen Begabungsprofils in der schulischen Angebotspalette kommen. Damit wäre den falschen Versprechungen ein Riegel vorgeschoben, den viele allzu mittelmäßige Maturazeugnisse im Hinblick auf allgemeine (breite) Studierfähigkeit machen.

Die Reduktion auf individuell bemessene Schwerpunktbereiche würde einen Akt der Redlichkeit des einzelnen gegenüber der Gesellschaft darstellen. Der wahrscheinlich unabdingbare Überblick über die nicht als Schwerpunkt gewählten Fächer sollte und könnte in neuen Formen relativ unverschulter Blockangebote erworben werden.

Berger beklagt die weithin „verhinderte Schulreform“ , verhindert durch die überall dort eingeplante Stagnation, wo die Reform zentral konzipiert und gesteuert wird.

Warum sollen gerade die in der Schule tätigen Sozialarbeiter den sozialpsychologischen Mechanismen entkommen? Sie blockieren auch anderswo die Eigeninitiative, das Engagement und den Einfallsreichtum, wenn eine hierarchisch strukturierte Verwal-. tungsorganisation nach festem Plan Verhaltensweisen anordnet und die einseitige Kontrolle von oben.ersticktdie Kooperation und damit auch die Kontrolle von der Seite.

Welch eine Perversion von Reformgesinnung kommt doch bisweilen zum Ausdruck, wenn gewesene Versuchsschulen vom Typ „Integrierte Gesamtschule“ äußern: „Gebt uns ein neues Projekt; wir möchten gerne wieder etwas versuchen…“

Die Blumen, von denen manche vorgeben, daß sie sie gerne blühen lassen möchten, müssen am Standort selbst keimen und sprießen dürfen, wenn die Wiese bunt werden soll.

Der Autor ist Professor für Schulpädagogik an der Universität Passau. Sein Beitrag setzt sich auseinander mit: KRITIK DER ENTWICKLUNG DER HÖHEREN SCHULE IN ÖSTERREICH von Walter Berger, Klagenfurter Beiträge zur bildungswissen- schaftlichen Forschung, Klagenfurt 1985.

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