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Reform oder Politikum?

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Ein paar Jahre Ruhe, eine Weile große Aufregung, dann wieder Ruhe und jetzt wieder Forderungen, Forderungen nach einer Reformierung. In nicht exakt absehbarer Zeit — wie sich Unterrichtsminister Fred Sinowatz in der Bundesrepublik Deutschland äußerte — soll wieder einmal reformiert werden. Nein, nicht das problematische Bildungswesen soll endlich an die Reihe kommen, sondern die Groß- und Kleinschreibung sowie andere Regeln der Orthographie.

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Ein paar Jahre Ruhe, eine Weile große Aufregung, dann wieder Ruhe und jetzt wieder Forderungen, Forderungen nach einer Reformierung. In nicht exakt absehbarer Zeit — wie sich Unterrichtsminister Fred Sinowatz in der Bundesrepublik Deutschland äußerte — soll wieder einmal reformiert werden. Nein, nicht das problematische Bildungswesen soll endlich an die Reihe kommen, sondern die Groß- und Kleinschreibung sowie andere Regeln der Orthographie.

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Im Unterrichtsministerium traf sich deshalb Mitte Juni eine Kommission von 34 Mitgliedern, die aus Wissenschaftern, Politikern, Beamten, Vertretern von. Körperschaften, des Buchhandels und Schriftstellern zusammengesetzt war. Es wurden vier Alternativen geboten:

• Die Beibehaltung der gegenwärtigen Großschreibung (Variante A);

• Die „vereinfachte Großschreibung“, die weitgehend dem heutigen System entspricht und die man nur in Extremfällen reformieren will (Variante B);

• Die .gemäßigte Kleinschreibung“, die dem englischen System mit Großbuchstaben am Sataanfang und bei Eigennamen entspricht (Variante C) und

• die „absolute Kleinschreibung“, die überhaupt keine Großbuchstaben mehr kennt (Variante D).

Jede dieser Varianten konnte von den Kommissionsmitgliedern in ein Rangsystem von eins bis vier gereiht werden. Hier die genauen Ergebnisse dieser Wertung:

• Variante A: 4 erste, 8 zweite, 19 dritte und 3 vierte Stellen;

• Variante B: 5 erste, 8 zweite, 9 dritte und 29 vierte Stellen;

• Variante C: 23 erste Ränge, 2 zweite, 9 dritte und 0 vierte Plätze;

• Variante D: 2 erste, 16 zweite, 4 dritte und 12 vierte Ränge.

Man hat sich also für die „gemäßigte Kleinschreibung“ ausgesprochen, Welche Vorteile bringt diese unserer Gesellschaft nach Meinung der Kommission? Wie sich Ministerialrat Walter Sachers, Geschäftsführer der Kammiission,

äußert: „Das Schreiben wird stark erleichtert.“

Doch die Dinge liegen nicht so einfach. Eine Änderung wäre nur dann berechtigt, wenn sie midi Sicherheit eine Verbesserung ist — oder Verbrauchtes, Abgestorbenes ersetzt. Das müssen die Reformer erst mit den Mitteln der Wissenschaft beweisen.

Wurden schon genug Beweise erbracht? Verstehen sich die Maßnahmen im Sinne einer „Sozialisierung“ im Biidiungswegen — oder will man durch extreme Vereinfachung des Geschriebenen nur radikale Erleichterungen ermöglichen?

Schon im Jahre 1954 wunde von einer deutsch-schweizerisch-österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Sprachpflege eine Umfrage zu einer von ihr entwickelten neuen „Orto-grafi“ veranstaltet. In der Schweizer •Zeitschrift „Die Weltwoche“, vom 25. Juni 1954, äußerten sich Thomas Mann, Friedrich Dürrenmatt und Hermann Hesse äußerst ablehnend:

• Thomas Mann stellte sich auf die Seite der Opponenten gegen diese „geplante Verarmung, Verhäßlichung und Verundeutlichung des deutschen Schriftbildes. „Mich stößt die Brutalität ab, die darin liegt, über die etymologische Geschichte der Wörter rücksichtslos hinwegzugehen“.

• Friedrich Dürrenmatt schrieb: „Nie sah ich ein gewisses, stets reform-wütiges Schuilmeisterdenken vollendeter widergespiegelt, als nun in der neuen Orthographie. Gegen Sintfluten kann man nicht kämpfen, nur Archen bauen: nicht mitmachen:“

• Hermann Hesse faßte seine Meinung lakenisch iti einen Satz zusammen: „Die vorgeschlagene, neue ,Ortografi' lehne ich, wie jede Verarmung der Sprache und des Sprach-bildes, vollkommen ab.“

Was wollen die Reformer heute eigentlich wirklich durchsetzen: eine Reform oder ein Politikum? Bei einem Kongreß in Deutschland, den die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft 1973 unter dem Motto „Vernünftiger schreiben“ veranstaltete, eröffnete Gerhand Zwernitz etwa mit dem Satz: „Ich bin gegen das Großkapital, den Großbürger und den Großgrundbesitz. Also bin ich auch gegen die Großschreibung!“

Kann man Sprachreform mit Politik untermauern?

Ist hur wirklich nur an Fortentwicklung gedacht? Muß man nicht

inzwischen den Eindruck haben, einigen Vertretern der Reform geht es gar um ein Reformieren nur um des Reformierens willen, wobei bil-dungspolitische, ja, gesellschaftspoli-sche Vorstellungen als Ausgangspunkt eine größere Rolle spielen als der Gegenstand selbst?

Die Kleinschreibung ist das Einfache, das einfach zu machen ist: alles einheitlich, alles schön, alles klar, alles ohne Schwierigkeit; sie ist die von allen gewünschte Realisierung der Channcengleichheit. Sollte es daher nicht das erste Erfordernis sein, in dieser Frage den sachlichen vom ideologischen Bereich zu trennen?

Welche Aspekte sprechen gegen die .gemäßigte Kleinschreibung“? Hier nur einige Argumente:

• Die Kontinuität unserer Überlieferungen wird gefährdet; älteres Schrifttum wird zumindest schwer zugänglich;

• das vertraute Schriftbild ist ein Kulturwert;

• die Umstellung würde viel Geld kosten; sämtliche im Handel aufliegenden Bücher müßten neu verlegt, ein Teil des Schulsystems müßte geändert werden.

Worin wäre also eine absolute Vereinfachung au erkennen?

Schon der Gelehrte Johann Christoph Gottsched schreibt in seinem Buch „Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst“ im Jahre 1784:

„Ich weis es sehr wohl, daß auch unter den Sprachlehrern sich einige gefunden, die uns, oder viel mehr dem Pöbel, das Schreiben dadurch zu erleichtern gesuchet, daß sie alles, was Schwierigkeiten machen kann, wegschaffen gelehret.“

Wir können in unserer komplizierten und immer komplizierter werdenden Welt nur dann leben und bestehen, wenn wir Anstrengungen machen, dem Komplizierten nicht auszuweichen, sondern uns nicht scheuen, ihm au begegnen.

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