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Reform von oben

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Am 21. August 1968, vor 15 Jahren, walzten Panzer aus fünf Warschauer- Pakt- Staaten den „Prager Frühling“ nieder. Warum der Versuch, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu errichten, scheitern mußte, untersucht hier der Publizist Ota Filip. Die Auswirkungen der Krise auf unser Land schildert Georg Prader, damals österreichischer Verteidigungsminister.

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Am 21. August 1968, vor 15 Jahren, walzten Panzer aus fünf Warschauer- Pakt- Staaten den „Prager Frühling“ nieder. Warum der Versuch, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu errichten, scheitern mußte, untersucht hier der Publizist Ota Filip. Die Auswirkungen der Krise auf unser Land schildert Georg Prader, damals österreichischer Verteidigungsminister.

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Nach 1945 gab es im zerstörten Europa kein einziges Land, in dem sich die Voraussetzungen zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft nach marxistisch-leninistischem Muster so günstig abzeichneten: die Rote Armee wurde in der Tschechoslowakei stürmisch als Befreier begrüßt’, Böhmen und Mähren, hochindustrialisierte Länder, waren vom Krieg im Vergleich zu anderen europäischen Staaten nicht so sehr betroffen. Der erneuerten Republik fiel das Hab und Gut von 3,5 Millionen vertriebenen Deutschen in den Schoß.

Das tschechoslowakische Trauma von 1938 und 1939 war nicht vergessen; die überwiegende Mehrheit des Volkes war für eine Anlehnung an die UdSSR und für eine „sozialistische Lösung“ der zukünftigen Entwicklung. Die Voraussetzungen, die die Tsche- choslowaken 1945 von der Geschichte geschenkt bekommen haben, waren unvergleichlich besser als im rückständigen Rußland nach der Oktoberrevolution von 1917.

Endlich schien der Weg in einem hochindustrialisierten Land mit einer vorwiegend für den Sozialismus begeisterten Bevölkerung frei; das große Experiment — Aufbau einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft in Glück und Wohlstand - konnte also ohne wesentliche Hindernisse beginnen.

Nicht ganze fünf Jahre nach 1945 - die gesamte Industrie, ja der kleinste Schuster waren schon verstaatlicht, die Landwirtschaft kollektivisiert, die Kommunisten mit sowjetischer Unterstützung an der Macht - war der Traum von einer glücklichen sozialistischen Gesellschaft aber auch schon wieder zerstört.

Wie im Rußland nach 1917 so hatten auch die tschechoslowakischen Kommunisten nach ihrer Machtergreifung im Jahr 1948 zuerst die sogenannte bourgeoise Gesellschaft liquidiert und gleich darauf auch ihre eigenen Kinder, die Revolutionäre der Vorkriegszeit, „aufgefressen“. Anfang der fünfziger Jahre gab es in der Tschechoslowakei keine Gesellschaft mehr, die Szene beherrschten von nun an ausschließlich moskauhörige Apparatschiks.

Es dauerte 20 Jahre, bis sich die tschechoslowakische Gesellschaft von den Schlägen, die ihr das totalitäre System nach 1945 versetzt hatte, einigermaßen erholen konnte. Interessanterweise hatte die Prager Reformbewegung ihre Unterstützung zuerst nicht im Volk, sondern in den Reihen der unzufriedenen marxistisch orientierten Intellektuellen gefunden. Außerhalb der Kommunistischen Partei war seit 1948 bis 1968 eine geistige Bewegung nicht möglich, und innerhalb der KP hatten die Reformer erst dann eine Chance, als die senilen Apparatschiks Anfang der sechziger Jahre mit ihrem Latein am Ende waren.

Die Wirtschaft war dem Zu sammenbruch nahe, das Volk in eine fast zynische Gleichgültigkeit verfallen, die Funktionäre der KP in einen Zustand des Schreckens und der Lähmung gestolpert. In dieser Atmosphäre konnten die Reformer innerhalb der total verunsicherten KP ihre Stimme erheben und die Appa- ratschiks, die wohl überhaupt nicht ahnten, was auf sie zukam, allmählich aus den Machtpositionen verdrängen. Der Weg in den „Prager Frühling“ war schon drei Jahre vor 1968 frei. Was für ein Ende dieser Frühling im Spätsommer 1968 genommen hat, das wissen wir bereits.

Es bleibt heute, 15 Jahre nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die CSSR, eine Frage zu klären: Wie konnte die Reformbewegung von 1968, die im Frühling 1968 in der CSSR scheinbar eine überwältigende Unterstützung des gesamten Volkes hatte, so sang- und klanglos in der sowjetischen Art von „Normalisierung“ untergehen?

Die Antwort auf diese Frage ist heute schon klar: Der tschechoslowakische Versuch einer Reform war eine Bewegung von oben, also nicht mit der polnischen „Solidarität“ zu vergleichen. Die Prager Reformer — ihr Verdienst bleibt unbestritten — waren zu sehr mit ihrer marxistischen Denkweise verbunden und wollten auch im Sommer 1968, als sie die spontanen Entwicklungen in der CSSR schon überholt hatten, nichts von ihrem Anspruch auf die führende Rolle innerhalb der Gesellschaft aufgeben.

Ich glaube sogar, daß auch ein Alexander Dubček sich von der öffentlichen Meinung, von der freien Presse, von Radio und Fernsehen überrumpelt fühlte. Auch die Reformer versuchten im Sommer 1968, die Bremse zu ziehen, es war jedoch zu spät. Seit April 1968 geriet die reformierte KP unter den Druck der aufgebrachten öffentlichen Meinung, die nicht nur mit den sogenannten „Fehlern der KP seit 1948“, sondern mit dem Marxismus selbst abrechnen wollte.

Die Ratlosigkeit der reformierten Partei zeigte sich am deutlichsten in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968, als fünf verbünde-

te Armeen die CSSR zu besetzen begannen. Das ZK tagte, und als Dubček um 22 Uhr die ersten Nachrichten von der Landung der sowjetischen Flugzeuge auf dem Prager Flughafen Ruzyne erfahren hatte, soll er nach Augenzeugenberichten verzweifelt ausgerufen haben: „Das können mir doch die Sowjets nicht antun!“

Das ZK der KPC wurde in der Nacht, im Gebäude der Parteiführung, in Prag verhaftet und von den Sowjets nach Moskau gebracht. Nach einigen Tagen kamen die Helden des Prager Frühlings aus Moskau als gebrochene Männer zurück. Der Vertrag, den sie in Moskau unterschrieben hatten, räumt den Sowjets bis in eine unabsehbare Zukunft das Recht ein, die CSSR militärisch zu okkupieren.

Nur ein einziger Genosse, František Kriegei, weigerte sich, unter diesen demütigendsten Vertrag der tschechoslowakischen Geschichte seine Unterschrift zu setzen. Als das tschechoslowakische Parlament Anfang September 1968 die Moskauer Verträge vom August ratifizierte, haben nur vier Abgeordnete — František Kriegei, Božena Nemcovä, Gertrud Sekaninovä-Cakrtovä und František Vodslon — den Mut aufgebracht und gegen diesen Vertrag gestimmt.

Seit jenem Tag im September 1968 wußte jeder Tschechoslowa- ke, daß die Prager Reformer ihrer Rolle, das Volk aus der Misere der gewalttätigen Herrschaft einer einzigen Ideologie hinauszuführen, nicht gewachsen waren. Der Traum von einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz war in der Tschechoslowakei damit endgültig ausgeträumt.

Die Prager Reformbewegung vor 15 Jahren war für die Sowjets eine Gefahr, die Moskau auf seine Art und Weise zu lösen verstanden hat. Eine halbe Million Soldaten der verbündeten Armeen besetzten das Land, die eingeleitete „Normalisierung des politischen und öffentlichen Lebens“ verlief so erfolgreich, daß heute in der CSSR wieder einmal eine geistige Bewegung innerhalb der KP nicht mehr möglich ist. Die Reform von oben, das haben die vergangenen

15 Jahre in der CSSR deutlich gezeigt, kann nicht funktionieren.

Der Prager Frühling war für Moskau jedoch nur eine ideologische Panne; die polnischen Entwicklungen seit 1980 müssen für die verkalkten Ideologen schon eine Katastrophe sein, denn in Polen hat es Moskau nicht wie im Prag 1968 mit reformierten Marxisten, Angehörigen der herrschenden Parteioberschicht, sondern mit einer Volksbewegung von unten zu tun. Ein Lech Walesa wird wohl nie die Rolle eines Alexander Dubček spielen, des schwermütigen, resignierenden Rentners, der seit 14 Jahren am Rande der slowakischen Hauptstadt Bratislava (Preßburg) seinen Garten pflegt und schweigt.

Vom Sozialismus nach sowjetischem Muster redet heute in der CSSR keiner mehr. Die kommunistische Propaganda, die schon seit 35 Jahren abgedroschene Phrasen wiederholt, ist in eine verzweifelte Lage hineingeschlittert: Man glaubt ihr auch dann nicht, wenn sie aus Versehen oder Irrtum ab und zu auch die Wahrheit sagt. Fünfzehn Jahre danach beginnt sich in der CSSR, in einem gewaltsam „normalisierten“ Land, wieder etwas geistig zu bewegen.

Das Manifest der „Charta 77“ hatte zwar keine Volkserhebung zur Folge, es eröffnete jedoch für die geistige Opposition gegen das totalitäre System neue Chancen. Im Halbuntergrund entsteht eine von der Ideologie unabhängige Literatur, sogar eine parallele Kunst, darüber hinaus — und das ist bestimmt das Wichtigste — eine vielschichtige intellektuelle Bewegung, in der die Traditionen des christlichen Abendlandes wieder belebt werden.

Eines ist heute klar: der nächste Versuch einer Erneuerung der tschechischen und slowakischen Gesellschaft oder eines demokratischen Staates liegt zwar in einer unabsehbaren Zukunft, er wird jedoch nicht durch eine Reformbewegung von oben, sondern durch eine Wiedergeburt der abendländischen Tradition von unten vollzogen werden. Die notwendige Kleinarbeit dazu leistet schon jetzt die geistige Opposition gegen das totalitäre System.

Der Autor, zwischen I960 und 1968 mehrfach zu Haft und Zwangsarbeit verurteilt, wurde 1974 aus der CSSR ausgebürgert und lebt seither als freier Schriftsteller und Verlagslektor in München.

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