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Nach der frommen Legende wurden die Bewohner des Städtchens Wittenberg am 31. Oktober 1517 schon in aller Früh schockiert. Staunend lasen sie, was ein Mönch namens Martin Luther am Portal der Schlosskirche befestigt hatte:

„Man soll die Christen lehren, dass, wer seinen Nächsten siehet darben und trotzdem Ablass löst, sich nicht des Papstes Ablaß, sondern Gottes Zorn zuzieht.“

„Man soll die Christen lehren, dass der Papst, wenn er wüsste der Ablassprediger Schinderei, lieber wollte, dass die Peterskirche in Rom zu Asche verbrannt würde, denn dass sie sollte mit Haut, Fleisch und Bein seiner Schafe erbaut werden.“ (These 45 und 50)

Darf man so reden? Ist es überhaupt erlaubt, die Kirche so hart zu kritisieren? Aber wer sollte es denn verbieten? Das ging gerade noch im 16. Jahrhundert, aber heute?

Es ist hilfreich, dass die Kirche heute oft hart kritisiert wird, denn sie braucht das! Das war ja gerade die Wiederentdeckung der Reformatoren, eines Luther, Müntzer, Zwingli und Calvin, nämlich: Die Kritik darf nicht den Kirchengegnern überlassen werden. Im Gegenteil: Selbstkritik ist eine der wichtigsten Aufgaben der Kirche. Reformation ist kein einmaliges Ereignis der Geschichte, sondern ständige Aufgabe: ecclesia Semper reformanda.

Die Tradition der evangelischen Kirchen versteht das im Sinne des „Allgemeinen Priestertums aller Gläubigen“: Jeder in der Kirche übernimmt einen Teil dieses Wächteramtes, nicht nur die beamteten Fachleute. Es mag verblüffend klingen, aber jeder Christ, der die Kirche kritisiert, übt eigentlich ein kirchliches Amt aus. Leidenschaftliches Schimpfen auf die Kirche geschieht oft aus leidenschaftlicher Sehnsucht nach einer biblischeren Kirche.

Natürlich kann auch das „Wächteramt“ missbraucht werden. Ich meine jene Kritik, die ohne Hoffnung passiert, und denjenigen, der seine Aggressionen auf die Kirche loslässt, zu gar nichts verpflichtet. So erfüllt die Kirche oft genug die Funktion eines Sündenbocks für andere Institutionen unserer Gesellschaft, aber die kann man eben nicht ohne Risiko kritisieren, aus ihnen kann man nicht austreten. Kritik an Kirche und Gesellschaft darf eben für den Kritiker selbst nicht unverbindlich sein, weil sie sonst ihre Glaubwürdigkeit verliert. Nur welche Kirche ermuntert schon ihre Gläubigen zu verbindlicher Kritik?

Es ist noch nicht lange her, dass evangelische Christen den Reformationstag als eine Art „Anti-Katholikentag“ gefeiert haben. Heute wissen alle Kirchen, daß sie ihren Auftrag in Zukunft nur erfüllen können, wenn sie bereit sind, eines ihrer Lebensprinzipien in der „ständigen Reformation“ zu sehen.

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