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Regieren auf dem Kaktus

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Wiederholt hat die französische Nationalversammlung in den vergangenen Wochen dem neuen Premierminister das Vertrauen ausgesprochen. Die Mißtrauensanträge der Opposition wurden abgeschlagen. Seit nun zwei Monaten präsidiert der Sozialist Francois Mitterrand, und der Neo-Gaullist Jacques Chirac regiert. Lionel Jospin, Parteichef der Sozialisten, hat die turbulente Situation der letzten

Wochen auf die einfache Formel gebracht: „Der Präsident ist links, die Regierung rechts.“ Die Pariser Tageszeitung „Le Monde“ hat die dem Land von der Verfassung auferlegte „Cohabitation“ zwischen Präsident und Premier, so wie sie sich seit der Wahl vom 16. März in Frankreich darstellt, trefflich mit einem „Kaktus“ verglichen.

Die Zusammenarbeit zweier politischer Lager in der Exekutive nimmt mehr und mehr die Züge eines „Grabenkrieges“ zwischen den beiden Taktikern Mitterrand und Chirac an.

Einerseits reizt Chirac den Präsidenten, indem er durch außenpolitische Erklärungen in dessen

traditionelle Domäne eingreift, andererseits meldet Mitterrand Vorbehalt nach Vorbehalt gegen die Gesetzesvorhaben des Premiers an. Dennoch gelingt es beiden bislang, die Furcht vieler Franzosen, daß eine derartige „Cohabitation“ nie funktionieren könne, zu widerlegen, indem sie dem Wunsch des Sozialistenchefs Jospin, daß die Zusammenarbeit bis 1988 - dem Ende von Mitterrands Amtszeit — halten müsse, und seinem Rat folgen: „Leben wir mit dieser Situation so lange sie dauern muß, ohne die Krise oder die politische Verwirrung zu suchen.“

Das hindert Chirac nicht an Versuchen, das gesamte regierungspolitische Terrain zu besetzen. Seine Vorstellungen zur Außenpolitik vor der internationalen Presse am 23. Mai in Paris waren nicht ohne Spitzen gegen die sozialistische Vorgängerregierung. Chirac kritisierte die ablehnende Haltung der Sozialisten gegen das amerikanische SDI-Pro-jekt, in seinen Augen ein gerecht-

fertigtes und „irreversibles“ Vorhaben, da die UdSSR ihr Weltraumverteidigungsprogramm zielbewußt vorantreibe. Für den Premier wäre es „verantwortungslos“, würde Frankreich als dritte Weltraummacht von dieser Entwicklung abgekoppelt.

Vor allem aber innenpolitisch nehmen die Spannungen der „Cohabitation“ zu, je mehr Chiracs Reformprogramm an Kontur gewinnt. Der Premier will nicht nur ein Reformprogramm, sondern auch eine „humanliberale Philosophie“ präsentieren.

In diesem Sinne versteht er seine Abkehr vom sozialistischen Staatsdirigismus und strebt „neuen Ufern“ zu. Brückenpfeüer dazu sind das Sofortprogramm zum wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung, die Reprivati-sierung verstaatlichter Unternehmen, eine Wirtschaftsliberalisierung und die baldige Finanzgesundung. Chirac will vor allem mehr Freiheit für die Unternehmen. „Nur blühende Firmen schaffen Arbeitsplätze“, folgert

er. Weitere Vorhaben sind die Verschärfung der Sicherheitsund Ausländergesetze sowie ein Gesetz zur mittelfristigen Verteidigung, wobei der Nuklearabschreckung weiter Vorrang eingeräumt wird. Die Sozialisten wittern Sozialabbau, wollen das Fundament ihrer „Wende“ von 1981, verteidigen und werfen Chirac ein „Programm der Zerstörung“ vor. Haben die Sozialisten ihre besonderen Probleme mit der in ihren Augen „sehr gefährlichen“ Wirtschaftsreform, fürchtet die rechtsextreme „Nationale Front“ angesichts Chiracs Vorhaben, zum Mehrheitswahlrecht zurückzukehren, um ihre Existenz in der Nationalversammlung.

Schwierige Cohabitation

Trotz der Turbulenzen steht Chirac nach Beobachtermeinung stärker da als seine Vorgänger in der „Fünften Republik“, die immer dem gleichen Lager angehörten wie der Staatspräsident Zu-

dem belegen Umfragen, daß Chirac Raymond Barre in der Rolle des „populärsten bürgerlichen Politikers“ überrundet hat. Chiracs Chancen, Mitterrand 1988 im höchsten Staatsamt abzulösen, scheinen zu steigen. Kritiker kreiden ihm an, daß er mit seiner Rechtsverordnungspolitik oft an der eigenen Mehrheit vorbeiregiere. Einige dieser Dekrete muß Mitterrand noch unterzeichnen, und es ist fraglich, ob er dies tun wird. Doch der Premier kann sich ein „Tauziehen“ mit dem Elysee leisten; zum Bruch muß es nicht unbedingt kommen, solange sich beide Seiten Vorteile aus der derzeitigen Form der „Cohabitation“ versprechen. Daß Chiracs reformpolitischer Enthusiasmus noch nicht so recht auf Wirtschaft und Börse überspringen will, dafür macht er unter anderem auch die Presse verantwortlich.

Dennoch, trotz Anfangsschwierigkeiten steht Chirac so schlecht gegenwärtig nicht da. Allerdings, die Sozialisten, die die letzte Wahl weniger deutlich als prognostiziert verloren, sind die große oppositionelle Kraft gegen seine Politik. Zudem sieht er sich in einer Situation, in der ihn Präsident Mitterrand zwar regieren läßt, aber nicht gewillt ist zuzulassen, daß Chirac die Grenzen durchbricht.

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