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Regina Garzö oder Familiengeschichte

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Im Jahr 1864 heiratete Regina, die damals gerade das Handwerk einer Hebamme erlernte, den um viele Jahre älteren Josef Garzö, einen Witwer, der in der Nähe von Nyiregyhäza mit Hilfe dreier halbwüchsiger Söhne eine große verlotterte Wassermühle betrieb. Er war noch schweigsamer als sie, auch um einen Kopf größer und' von außergewöhnlich breiter Statur, sodaß er an die Mehlsäcke erinnerte, die er seit Jahren zu schleppen hatte. Seine riesenhafte Gestalt, der buschige graublonde Bart, die kleinen veil-chenfarbenen Augen, deren Ausdruck man je nach innerer Einstellung für stumpfsinnig oder für arglos halten konnte, machten ihn zur stadtbekannten Figur, die man bei besonderen Feierlichkeiten gerne in der Nähe der Ehrentribüne postiert sah, als hätte man mit einer Art lebendigem Wappentier aufzuwarten.

Regina erwarb zwar das Diplom einer Hebamme, übte aber das Handwerk vorerst nicht aus, sondern blieb meistens in der Mühle. Über ihre Beziehungen zu den drei Stiefsöhnen ist nichts Näheres bekannt; daß sie ihre Pflichten als Hausfrau erfüllte, steht außer Zweifel. Da sie mit allen einschlägigen Praktiken bekannt war, brachte sie nur einen einzigen Sohn zur Welt, jenen Kaiman Garzö (geboren 1870 in Nyiregyhäza, gefallen

1908), der später zu den verläßlichsten, allerdings auch härtesten Unteroffizieren der k.u.k. Infantrie gehörte und der anläßlich der Okkupation Bosniens und der Herzegovina durch Österreich-Ungarn aus dem Hinterhalt - angeblich von einem Schützen ausdereigenenMannschaft-erschos-sen wurde.

Erziehung ohne Wenn und Aber

Angesichts der Erziehung, die Regina ihrem Sohn angedeihen ließ, hatten die drei Stiefsöhne ein leichtes Leben und brachten aus Dankbarkeit hin und wieder kleine Geschenke aus der Stadt mit. Ihre Methoden waren durchdacht und unbarmherzig, ihre pädagogischen Prinzipien (Instinkte einer selbstherrlichen Mutterschaft? Erinnerung an die rohen Umgangsformen in der Schmiede? Zartfühlende Entschlossenheit, den jungen Mann abzuhärten? Erbteil jener fernen Ja-nitscharen?) kannten kein Wenn und Aber. Kaiman, der alles ohne Murren hinnahm, war der Stolz seiner Mutter. Sein Kampfgeist außer Haus entwik-kelte sich rasch; stumm und wild verdrosch er Gleichaltrige, manchmal auch Ältere. Wenn er nach solchen Raufhändel nach Hause kam, wurde er von Regina gut versorgt: sie verband die Wunden, schob dem Sohn den besten Bissen auf den Teller, flickte schweigsam das zerrissene Gewand, ließ sogar ab und zu durch einen Blick versonnene Zärtlichkeit erkennen.

Ihre äußeren Lebensbedingungen änderten sich im Herbst des Jahres 1882 schlagartig. Irgendwann warein malender Volksschullehrer auf di; naheliegende Idee gekommen, den Müller Jözef Garzö zu porträtieren. Das Modell hatte keinen Einwand, und so ist dann ein in Öl gemaltes Bild entstanden, das die Eigenart und auch die Gesichtszüge der auffallenden Erscheinung ziemlich lebensecht erkennen ließ. Wie so oft führte aber der harmlose Drang, ein Kunstprodukt in den Augen des Publikums durch eine gelehrte Anspielung über den Durchschnitt zu heben, zur Katastrophe: Nachdem der Maler sein Werk unter dem Titel „Russischer Bär" ausgestellt hatte, fand man ihn mit zertrümmertem Schädel an der Friedhofsmauer. Jözef Garzö, der ihn offenbar umgebracht hatte, war spurlos verschwunden.

Erst lange nach der Revolution von 1917 stellte sich heraus, daß er sich den Gerichten entzogen hatte, indem er offenbar zu Fuß über die Karpaten nach Rußland gewandert war und irgendwo in der warmen Tiefe unübersehbarer und unkontrollierbarer Menschenmassen sein Leben fristete, bis er endlich in einem jener entlegenen Klöster Aufnahme gefunden hatte, deren heiligmäßige Mönche nicht viel fragten, sondern Gottes Kreatur der Gerechtigkeit des Allmächtigen überließen und sie in christlicher Nächstenliebe bei sich beherbergten.

In diesem Kloster begegnete ihm im Jahre 1920 ein gewisser Arthur Deutsch, der damals bereits Afanassij Alexandrowitsch German hieß und als Befehlshaber eines Sonderkommandos der Roten Armee klerikale Widerstandsnester (wie dieses Kloster) zu liquidieren hatte. Ein kurzes Verhör hatte ergeben, daß Jözef Garzö an diesem letzten Tag seines Lebens einem ehemaligen Landsmann gegenüberstand. Arthur Deutsch hielt die kurze Lebensbeichte des Greises für beachtenswert; jedenfalls merkte er sich das Wesentliche so gut, daß er noch Jahrzehnte später in def gelösten Stimmung eines Familientreffens (wenn das Wort hier angebracht ist, denn die Familie war infojge der Massenmorde auf ein paar Überlebende zusammengeschrumpft) einige Einzelheiten berichten konnte.

So erfuhr Andräs Wirth in der Nacht vom 13. auf den 14. März 1946 in einem unversehrt gebliebenen Zimmer der Villa Adele im Budapester Gartenviertel Pasaret, daß Gottes Mühlen langsamer mahlen als die eine Mühle Jözef Garzös bei Nyiregyhäza gearbeitet hatte. Der verschollene Ehemann der Hebamme Regina Garzö war seinen Henkern nicht entkommen.

Aus dem nachgelassenen, unveröffentlichten Romanfragment: WIRTH. LEXIKON EINES LEBENS. Ausgewählt, durchgesehen und gekürzt von Helga Blaschek-Hahn. Der erste Teil erschien in FURCHE 43/1991.

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