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Regina Garzö oder Familiengeschichten

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Garzö, Regina, geboren 1846 in Kisvärda, gestorben 1917 in Nyiragyhäza, Ungarn, wäre ihren tiefsten Neigungen nach gerne Hexe geworden, wurde aber durch ihren Stolz zurückgehalten, die finsteren Mächte, die sie von allen Mächten der Welt noch am wenig; sten verachtete, zu Hilfe zu rufen. Ihr Vater diente lebenslang einem Dorfschmied, ihr Großvater hatte das Schmiedehandwerk als Wandergeselle meistens auf eigene Rechnung ausgeübt. Dessen Vater war Waffenschmied gewesen. Über die Mütter und Töchter war wenig bekannt. Regina Garzös Mutter war angeblich das jüngste Kind eines Gastwirtes, dessen Anwesen während des Krieges 1849 ausgeraubt und anschließend in Brand gesteckt worden war. Die Geschlechterfolge von Anbeginn der Zeiten, deren ungebrochener Fruchtbarkeit Regina Gorzö ihr Leben verdankte, hatte eine folgenschwere Szene aufzuweisen:

Im Sommer des Jahres 1678 erschienen zwei Reiter am Horizont der großen Viehweide, stürmten auf das Dorf zu, in dem sich zur Erntezeit nur ein paar alte Frauen, junge Mädchen und die ihnen anvertrauten Kinder befanden, ließen ihre riesenhaften Rösser hochsteigen, sodaß der flockige Schaum aus den Pferdemäulern über die Dächer flog, und sprangen, indem sie ihre dunklen Hengste mit der gleichen Bewegung zu Boden rissen, aus dem Sattel. Sie waren größer als alle Männer, die man in der Gegend je gesehen hatte, und wirkten noch größer, da sie schwiegen. Sie hatten dunkel glänzende knochige Gesichter, waren aber heller als die Zigeuner; ihre Haut hatten einen gelben, auch im Schatten mattgolden leuchtenden Schimmer. Wortlos hielten sie Ausschau nach einem Menschenwesen. Da sich aber nichts rührte, machten sie sich, die Hand am Knauf des Schwertes, auf den Weg, zogen die Mädchen, eines nach dem anderen, wie Vieh aus dem Stall aus ihren Verstecken, musterten sie kurz und ließen sie dann in die von Menschenleibern vollgepferchten Gruben oder Kellerlöcher zurückgleiten - oder mit zuk-kenden Schritten davonrennen. So wählten sie sich im Verlauf einer vollen Stunde zuweilen knurrend, sonst aber wortlos, das Reifste und Beste aus und verschwanden mit zwei Mädchen so rasch sie gekommen waren; das Dorf sah nur die mächtigen Schatten der Pferde über die Dächer huschen. Eines der beiden Mädchen kehrte niemals zurück (war es seinen Peinigem freiwillig ins Lager gefolgt? hatte es im Troß die Mauern von Wien erreicht, die Schlacht erlebt, den Rückzug mit den Qualen der Entbehrung und den Wonnen der Liebe durchlitten? wurde es unterwegs in gnädiger Eile umgebracht oder bloß am Wegrand stehengelassen?).

Das andere Mädchen lag bereits vor Mittemacht wieder in der Hütte an der Seite der Großeltern und Geschwister. Bald zeigte sich, daß es sich verändert hatte: wortlos tat es seine Arbeit, als wäre es von den fremden Männern angesteckt worden mit Schweigen und mit einem Wissen, das aus ihrem Kopf alles übrige verdrängte. Irgendwann verließ es das Dorf und lebte von da an allein in einer Hütte, die die Hirten vor langer Zeit errichtet, aber wieder verlassen hatten. Dort brachte es einen Sohn zur Welt, der am Schädel und an der Brust das mondförmige Zeichen der Schamanen trug. Von diesem stammten alle die Männer bis zum Urgroßvater der Regina Garzö ab, die von Generation zu Generation ihr Brot mit Eisen und Feuer verdienten. Aus dem nachgelassenen, unveröffentlichten Romanfragment: WIRTH. LEXIKON EINES LEBENS. Ausgewählt, durchgesehen und gekürzt von Helga Bla-schek-Hahn. Der zweite Teil dieses Kapitels wird in einer der folgenden Nummern der FURCHE veröffentlicht werden.

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