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Reine Augenauswischerei

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Fünfmal, kurz hintereinander, hat der politische Terror jetzt wieder in der britischen Hauptstadt selbst zugeschlagen und dabei bisher drei Todesopfer und mehr als 100 zum Teil Schwerverletzte gefordert. Ob die Entscheidung, die Bombenkampagne nach rund einjähriger Pause wieder auf englischen Boden zu verlagern, nur vom Oberkommando der IRA in Dublin getroffen wurde — was man dort zur Zeit noch dementiert — oder von Splittergruppen irisch-republikanischer Terroristen in England, das ist im Prinzip nur von sekundärer Bedeutung für die Frage, mit der dieser Artikel überschrieben ist.

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Fünfmal, kurz hintereinander, hat der politische Terror jetzt wieder in der britischen Hauptstadt selbst zugeschlagen und dabei bisher drei Todesopfer und mehr als 100 zum Teil Schwerverletzte gefordert. Ob die Entscheidung, die Bombenkampagne nach rund einjähriger Pause wieder auf englischen Boden zu verlagern, nur vom Oberkommando der IRA in Dublin getroffen wurde — was man dort zur Zeit noch dementiert — oder von Splittergruppen irisch-republikanischer Terroristen in England, das ist im Prinzip nur von sekundärer Bedeutung für die Frage, mit der dieser Artikel überschrieben ist.

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Hier zunächst die makabre Bilanz bisher. Abend des 27. August: Bombenexplosion in einem hauptsächlich von Soldaten frequentierten Trinklokal in Caterham, am Südrand Londons — 33 Menschen zum Teil schwer verletzt; ein junger Gardesoldat verliert beide Beine und einen Arm. 28. August, nachmittag: Bombenexplosipn in Londons größter Geschäftsstraße, der Oxford Street — sieben Menschen verletzt, hauptsächlich durch Glassplitter, 29. August, abends: eine durch anonymen Anruf entdeckte Bombe am Eingang eines Schuhgeschäftes in einer anderen Londoner Geschäftsstraße explodiert, als sich ihr ein Polizeihauptmann von Scotland Yard nähert — ein Toter. 31. August, abends: nahe der Londoner City explodiert eine Bombe vor einem Bürogebäude — nur Sachschaden. Und schließlich 5. September, mittags: Bombenexplosion in der überfüllten Halle des London-Hilton-Hotels, Park Lane — eine Tote, 62 meist Schwerverletzte; Blutlachen, abgerissene Gliedmaßen, geplatzte Trommelfelle.

Es Ist vollkommen klär, daß Aufzählungen dieser Art, mögen sie noch so viel blutrünstige Einzelheiten enthalten, auf die Dauer ermüdend und abstumpfend wirken, nicht zuletzt deshalb, weil sie, wenigstens in diesem Falle, meist schon von neuen Schreckensmeldungen überholt sind, wenn sie in Druck erscheinen. Und als Journalist hört man hier auch tatsächlich immer wieder die Frage: „Warum schreibt ihr denn immer wieder über Nordirland? Es ist doch immer dasselbe, man kann das schon gar nicht mehr hören!“

Aber die Tatsache, daß dem englischen Zeitungsleser das Thema Ulster zum Hals heraushängt, wird nicht verhindern, daß in den nächsten Wochen und Monaten weitere englische Kaufhäuser, Gaststätten, Kinos und sonstige „strategische“

Ziele den republikanischen Bombenanschlägen zum Opfer fallen werden, und daß der englische Steuerzahler weiterhin den Krieg in Nordirland — und um einen solchen handelt es sich — mit seinen Abgaben finanziert; die Kosten für die britischen Truppen in Ulster, ihre dortigen Operationen und die massive britische Wirtschaftshilfe für die Provinz belaufen sich zur Zeit etwa auf rund 30 Millionen Pfund pro Monat! Ein recht kostspieliger Aufwand für einen Landesteil, dessen Bevölkerung zum Teil mit dem Anschluß an die Irische Republik liebäugelt, zum anderen, größeren Teil — die sogenannten protestantischen Loyalisten — der britischen Regierung als Antwort auf alle Vermittlungsversuche immer öfter mit einer einseitig ausgesprochenen Unabhängigkeitserklärung Nordirlands droht, oder allermindestens mit einem neuen Generalstreik.

Man braucht nur einen Blick auf die gegenwärtige politische Situation in Nordirland zu werfen, um sofort ihre geradezu absurde Verfahrenheit und Hoffnungslosigkeit zu erkennen. Das vom britischen Nordirlandminister Merlyn Rees in mühevoller Arbeit zusammengebastelte Regierungsinstrument für Ulster,- die sogenannte Convention, von Anfang an nicht allzu optimistisch beurteilt, hat jetzt das Stadium des Zusammenbruchs erreicht. Die beiden wichtigsten Mitglieder dieser Exekutivversammlung, der protestantische Upited Ulster Unionist Council. (ÜUUC) und die katholische Social Democratic and Labour Party (SDLP), sind in ihren Verhandlungen, wie erwartet, an dem alten Grundprobelm gescheitert, nämlich an dem Konzept einer echten Teilung der politischen Macht in Ulster. Sobald dieses Scheitern nicht nur Tatsache, sondern auch öffentlich erklärbare Tatsache geworden Ist, werden die Convention-Mitglieder dies der Regierung in London mitteilen; sie werden die eigene Unfähigkeit zur Erzielung einer friedlich-demokratischen Einigung zugeben, gleichzeitig aber mit allen Arten von Vergeltungsmaßnahmen drohen, falls sie mit den weiteren englischen Vermittlungsvorschlägen nicht einverstanden sind.

Inzwischen sehen die militanten Extremisten auf beiden Seiten der Unfähigkeit der Politiker in Belfast, Dublin und London mit wachsender Ungeduld und möglicherweise auch mit wachsender Schadenfreude zu. Die gesteigerte Terrortätigkeit paramilitärischer protestantischer Gruppen macht die Männer der IRA nur um so entschlossener, in diesem schaurigen Wettbwerb nicht zurückzustehen, und die neue Bombenwelle in London kann sehr wohl ihre erste Antwort darauf sein. Und wenn sich in den nächsten Tagen und Wochen London und Belfast dem gleichzeitigen Zusammenbruch der Convention und des IRA-Waffenstillstandes gegenübersehen sollten, dann könnte die lange vorausgesagte endgültige Katastrophe Nordirlands näher bevorstehen, als man dies in der abgelaufenen trügerischen Rüheperiode erwartet hatte.

Die protestantischen Reaktionen auf die mit einigem Aplomb angekündigte „Krisenerklärung“ -von Nordirlandminister Rees im hordiri;-schen Fernsehen '.körinen .diesen Pessimismus nur verstärken. Der nur sechs Minuten lange Appell des Ministers um Mäßigung und Einigkeit, und seine gleichzeitige Weiterung, die britischen Sicherheitsmaßnahmen gegenüber der IRA gritöd-, legend zu ändern, wurde;: von den extremeren protestantischen Politikern als „reine Augenauswischerei und völlig unakzeptabel“ bezeichnet, während gemäßigtere Männer,, wie etwa Brian Faulkner, von einem „bedauerlichen Mangel an Initiative und neuen Ideen“ sprachen. Auch die von Minister Rees vorgenommene Verstärkung der britischen

Truppen in Nordirland um 650 Mann wird allgemein als total unzureichend angesehen.

Was also wird geschehen? Was kann, soll oder wird getan werden, um diese anscheinend unlösbarste, tragischeste aller politischen Krisen zu beseitigen? Im besten Falle — ich betone, im besten Falle — steht zu hoffen, daß das gegenwärtige blutig-' gleichförmige' Älltagstreiben so 'bleibt wie'bisher, das heißt also, daß man in London weiterhin den ehrenhaften, hoffnungslosen Weg der bisherigen Polizeirolle in Ulster weitergeht,, daß man nicht die Geduld verliert und nicht die britischen Truppen aus der Provinz abzieht, nicht das Land dem Gemetzel eines großangelegten Bürgerkrieges überläßt. 'Ob allerdings die englische Öffentlichkeit, von der schließlich letzten Endes die Politiker doch abhängig sind, sich einem erneuten und verstärkten Druck von Terroranschlägen auf die Dauer fügen wird, kann zumindest bezweifelt werden.

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