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„Reißt die Türen auf!“

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In der Liturgie des hochheiligen Weihnachtsfestes gedenken wir der allerseligsten Jungfrau Maria und ihres Bräutigams, des heiligen Josef, auf ihrem Wege zur Volkszählung nach Bethlehem, der Stadt Davids. Zugleich naht für Maria die schwere Stunde ihrer Niederkunft, die Stunde der Geburt Jesu, des Heilandes, das heißt, Heilbrin-gers und Retters der Welt. Maria und Josef suchten in Bethlehem eine Bleibe für die Nacht. Sie müssen mit einem Stall für Tiere vorliebnehmen, „da in der Herberge für sie kein Platz war“ (Lk 2,7).

Das geschichtliche Ereignis der Geburt des Jesuskindes betrifft zunächst unmittelbar das irdische, menschliche Leben Christi. Aber dieses Ereignis setzt sich fort und bewahrheitet sich auch heute, hier und dort, in seinem Fortleben in der Kirche, dem Geheimnisvollen Leibe Christi.

Die „Herbergsuche ohne Erfolg“ ereignet sich in jedem Zeitalter der Kirchengeschichte aufs neue und ist eine Weise der Fortführung des Erlösungswerkes in den Jahrhunderten und Jahrtausenden nach der Geburt Jesu in Bethlehem.

Das Erlösungwerk am Menschen betrifft das Gottesvolk, die Kirche, denn sie ist der fortlebende Christus. Daher hat die Kirche auch ihr volles Augenmerk dem Menschen zuzuwenden. Sie ist von der Gewißheit der unsichtbaren, aber wirkungsvollen Gegenwart ihres Herrn getragen, der vor seiner Auffahrt in den Himmel zu seinen Aposteln gesagt hat: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt“ (Mt 28,20).

Bietet die Kirche - und diese sind wir Christen! - heute klar und einladend dem unterstandslosen Menschen Herberge an? Unzählige Menschen erkennen nicht die Botschaft der Errettung, der Erlösung, des Heils: die Nachricht von der Befreiung durch Christus, den Heiland der Welt. Sie vermögen die Rolle der Kirche im Weltendrama nicht zu begreifen: „Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott und für die Einheit der ganzen Menschheit“ (Lumen gentium, Nr. 1, Dogmatische Konstitution des 2. Vatikanischen Konzils über die Kirche).

In vielen Menschenherzen wird Christus nicht geboren, ja kann Christus nicht geboren werden, weil „für sie in der Herberge kein Platz“ ist. Unzählige Menschen finden nicht den Weg durch die Tore der Kirche in deren Inneres oder verbleiben nicht in ihrem Heiligtum, weil die Gnade des Glaubens ihnen offensichtlich nicht zuteil wurde. Von vielerlei Zweifeln, Fragen, Einwänden gequält, „sind sie eingehüllt in Finsternis und Todesschatten“ (Lk 1,79).

Der Glaube ist nach katholischer Lehre ein Geschenk Gottes, zu dem aber der Mensch noch sehr viel selbst beitragen kann. Jene, dienoch nicht im Besitze des Glaubens sind, erreiche die bewegende Einladung Papst Johannes Pauls II., die er anläßlich seiner feierlichen Amtseinführung in das Amt des heiligen Petrus als oberster Hirte der Kirche aussprach.

Diese Einladung richtet sich an die gläubigen Christen, an das Gottesvolk in erster Linie: denn wir Christen haben die Türen unserer liebgewonnenen Herberge zu öffnen, nein, aufzureißen, damit alle jene Christus begegnen können, die Seiner so dringend bedürfen. Der Ruf gilt aber auch denen, die draußen sind. Draußen vor der Türe.

„Brüder und Schwestern! Habt keine Furcht, Christus aufzunehmen und seine Macht! Helft dem Papste und allen, die Christus dienen wollen, in der Kraft Christi! Helft allen Menschen und der ganzen Menschheit! Habt keine Furcht! Öffnet, reißt weit auf die Tore für Christus! Öffnet seiner rettenden Kraft die Grenzen der Staaten, die Grenzen der ökonomischen und politischen Systeme, der verwüsteten Felder, der Stätten der Kultur, der Zivilisation, der Entwicklung des Menschengeschlechtes! Habt keine Angst! Christus weiß, was im Menschen ist und nur ER weiß es! Heute ist dem Menschen selbst das oftmals verborgen, was er in sich trägt, in der Tiefe seines Wesens, seiner Seele, seines Herzens! Er ist auf der Suche nach dem Sinn des Lebens auf dieser Erde. Er weiß nicht um die Sicherheit seines Weges und dieser Zweifel treibt ihn in Verzweiflung. Ich bitte euch, ich flehe euch an in aller Demut und mit zuversichtlichem Vertrauen: Erlaubt es Christus, zum Menschen zusprechen! Denn nur ER hat Worte des Lebens, ja, des ewigen Lebens!“

Am 1. Dezember dieses zu Ende gehenden Jahres, mit dessen Ablauf wir in das letzte Jahrzehnt des Jahrtausends eintreten, scheint es, daß dem Papst die Gnade zuteil wurde, die Erhörung seiner herzlichen und flehentlichen Bitte, seiner Gebete zu erleben: Das Staatsoberhaupt eines der mächtigen Staaten des Erdkreises, der Staatschef der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Michail Gorbatschow, besuchte Johannes Paul II. im Vatikan: „In dem gemeinsamen Haus für alle Vertreter der Völker der Erde“ (O. R., deutsche Ausgabe 8. Dezember 89). Er bekundete seinen guten Willen, kraft seiner Autorität das Menschenrecht auf Religionsfreiheit in seinem Einflußbereich zu gewährleisten und damit tatsächlich die Tore für Christus zu öffnen, die Grenzen der Staaten, der politischen Ideologien und wirtschaftlichen Systeme für IHN aufzutun.

Und wir Christen? Wir Christen in Österreich, in Europa, in der Welt?

An uns liegt es, die Grenzen unserer Teilkirchen vom Bodensee bis ins Burgenland, von den Karawanken bis in den Norden des Waldviertels, von der alten Kaiserstadt Wien bis Salzburg und Graz, von einer Nation zur anderen, von einem Kontinent zum anderen ebenfalls als unsere Herberge zu öffnen. Wir dürfen nicht scheu uns vor Begegnungen zurückziehen, die des ganzen Mutes des Christen bedürfen. Wir dürfen den Dialog nicht scheuen, das Gespräch, das Einan-der-Kennenlernen und Aufeinan-der-Eingehen.

Dies berührt die religiöse Dimension der Kirche: Öffnen wir die Tore unserer Herberge, um Platz zu machen für jene, die im Leid der Dunkelheit und des Irrtums nach der Wahrheit suchen. Dies gilt für den weiten und vielfältigen gesellschaftlichen Raum: Erkennen wir die Not der Menschen in ihrer Einsamkeit und Unruhe, auf der Suche nach den wahren und endgültigen Werten des Lebens.

Die Staatsgrenzen Österreichs sind nunmehr auch im Norden und Osten durchlässig geworden. Unsere Besucher kommen voller Staunen und Fragen. Öffnen wir die „Herberge“ unserer Seele und unserer Häuser, um sie wie Christus aufzunehmen, damit sie nicht ausgeschlossen bleiben, weil in der Herberge kein Platz für sie war.

Im weitesten Sinne ist diese Herberge die ganze Welt. Wenn wir deren Türen verschließen, schließen wir Christus aus. Wenn wir offene Türen aus unberechtigter Sorge um unsere eigene Sicherheit zuschlagen, verletzen wir gleicherweise die Liebe. Diese Liebe aber gipfelt in der Chance der Eintretenden, Christus zu begegnen. Niemanden wollen wir ausgrenzen, um ihn nicht annehmen zu müssen, niemanden aus Angst vor Bemühung verstoßen. Denn eine „Kultur der Solidarität“ ist im besten Sinn ein Stück jener politischen Kultur, derer wir Europäer so sehr bedürfen.

Dann wird auch alle Furcht vor dem Unbekannten von uns weichen. Wir werden wie die Hirten sein, die in ihrer Nachtwache zur Krippe eilen und der Engel Botschaft als großen Trost vernehmen: „Fürchtet euch nicht. Heute ist euch der Heiland geboren, Christus der Herr“ (Lk 2,10-11). Dann ist die Ehre und „Friede wird auf Erden sein, den Menschen aber ein Wohlgefallen“ (Lk2,14).

Der Autor, Titularerzbischof von Teurnia, ist Apostolischer Nuntius in Österreich.

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