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Reizwort Sexualität

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Bei Diskussionen redet man leicht aneinander vorbei. Gesprächspartner gebrauchen nämlich häufig dieselben Worte, füllen sie aber mit anderen Inhalten. Viele Begriffe haben sich nämlich von ihrer ursprünglichen Bedeutung „emanzipiert". Typisches Beispiel: Sexualität. Was versteht man heute darunter?

Ich schlage im „Farbigen großen Volkslexikon" nach und lese: „Sexualität: (Geschlechtlich-keit), beim Menschen Gesamtheit der Lebensäußerungen, die auf dem Geschlechtstrieb, einem auf geschlechtliche Beziehung und Befriedigung gezielten Trieb, beruhen...' . Von sexuellen Praktiken, Koituspositionen, körperlicher und psychischer Befriedigung ist weiters die Rede. Welche Verkürzung der ursprünglichen Bedeutung! Eigentlich bezeichnete Sexualität alle Merkmale des Faktums, daß der Mensch entweder als Frau oder als Mann existiert. Heute ist nur mehr vom Trieb die Rede, Ergebnis einer einseitigen, wissenschaftlichen Betrachtung.

Seit Sigmund Freud wird dem l'rieb eine persönlichkeitsbildende Vorrangstellung eingeräumt. Fehlentwicklungen würden auftreten, wo kulturelle Tabus sein Ausleben verhindern. Wilhelm Reich wiederum sah im Orgasmus den Gradmesser für ein erfülltes Sexualleben. Auf diesem Konzept baute der berühmte Kin-sey-Report über das Sexualverhalten der Amerikaner auf. Da wurden alle Praktiken, die zum Orgasmus führen, als gleichwertig angesehen: Alles sei recht, solange die Beteiligten einverstanden sind. So braucht sexuelles Tun keinen Partner mehr, so entfällt die Unterscheidung zwischen Homo- und Heterosexualität.

Sexualität als Triebbefriedigung, als Ausfluß körperlicher und psychischer Bedürfnisse, als autonomer Bereich menschlicher Glückserfahrung.

Dieses Konzept paßt gut in die Konsumgesellschaft, in die Vorstellung von der Souveränität des Individuums, das sich von äußeren (religiösen und kulturellen) Zwängen befreit.

Wer sich kritisch mit dieser Sichtweise auseinandersetzen will, sollte sich bewußt machen, welche Grundentscheidungen sich im Reden von der Sexualität des Menschen heute unausgesprochen artikulieren.

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