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Rekonstruktion eines Aufbruchs

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Carl E. Schorske, Dayton-Stqckton Professor of History und Direktor des „European Cultural Studies Seminar” an der amerikanischen Universität Princeton, New Jersey, hat ein faszinierendes Buch über das Wien der Jahrhundertwende geschrieben. Univ.-Prof. Fritz Fellner, Historiker ander Universität Salzburg, hat darin geblättert und setzt sich für die FURCHE damit auseinander.

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Carl E. Schorske, Dayton-Stqckton Professor of History und Direktor des „European Cultural Studies Seminar” an der amerikanischen Universität Princeton, New Jersey, hat ein faszinierendes Buch über das Wien der Jahrhundertwende geschrieben. Univ.-Prof. Fritz Fellner, Historiker ander Universität Salzburg, hat darin geblättert und setzt sich für die FURCHE damit auseinander.

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Es war auf der Suche nach dem Zeitgeist, in dem Sigmund Freud wirkte, daß einer der bedeutendsten amerikanischen Historiker, Carl Schorske, in den 1950er Jahren, damals als Engel-Janosi die Unkenntnis österreichischer Dinge in den USA beklagte, den Weg seiner Forschungen in das Wien der Jahrhundertwende lenkte. Nun, mehr als zwanzig Jahre später, legt Schorske das Ergebnis seiner Forschung vor - eigentlich nicht das Ergebnis, denn er sagt selbst, daß das, was er bietet, „weniger die zielstrebige Ausarbeitung eines Buches, als die Gestaltung der Spuren einer fortdauernden Erkundung” sei.

Kein endgültiges Resultat legt Schorske vor, auch keine Zwischenbilanz, sondern ein Mosaik von historischen Einsichten, die scheinbar lose nebeneinander liegen und sich doch, wenn man sie mit verstehendem Blick betrachtet, ein Ganzes, ein das Geistesund Kunstleben des Fin de Siecle geradezu kongenial widerspiegelndes Geschichtsbild ergeben.

„Was mich dazu führte, das Problem ,Klimt' zu untersuchen, war nicht bloß die Symmetrie des Lebens und der Anliegen des Künstlers mit jenen von Freud. Es war weit eher der Umstand, daß Klimt so klar die sozio-kulturelle Situation erhellt, in der auch die Psychoanalyse entstanden ist.” -Treffender lassen sich Wesen und Aufbau der Leistung Carl Schorskes gar nicht formulieren:

Es ist eine frappierende Symmetrie in Anlage und Durchführung von Schorskes Buch zu den Forschungen Freuds, den Gemälden Klimts, der Architektur Otto Wagners und der Musik Arnold Schönbergs festzustellen. Es ist, wie wenn Schorskes Buch selbst Bestandteil jenes Fin de Siecle wäre, das er zu erforschen, zu schildern sich vorgenommen hatte.

„Das Wesen unserer Epoche ist Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit. Sie kann nur auf Gleitendem ausruhen und ist sich bewußt, daß es Gleitendes ist, wo andere Generationen an das Feste glaubten”, zitiert Schorske in seinem ersten Essay über „Politics and the Psyche” aus einem Vortrag von Hofmannsthal aus dem Jahre 1905, um dann zu jenem Bekenntnis aus dem Chandos-Brief Hofmannsthals überzuleiten:

„Es gelang mir nicht mehr, das Geschehen mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen.” - Was die Wissenschaft mit dem Wort Disinte-gration zu umfassen versucht hat, das Sichauflösen der Realität unter dem Skalpell der gedanklichen Analyse, hat Hofmannsthal viel unmittelbarer sichtbar werden lassen, und damit das Wesen dieses geistigen Umbruchs, des Aufbruchs in die Moderne - und das Wesen von Schorskes Buch über dieses historische Phänomen beschrieben.

Schorske kam von der politischen Geschichte her. Als er sich der „Zeit Sigmund Freuds” zuwandte, das Versagen des Liberalismus gegenüber den Forderungen der politischen Demokratie hatte seine Aufmerksamkeit erregt, den Versuchen der Schriftsteller und Dichter, die Stellung des Individuums in der sich auflösenden Gesellschaft zu analysieren, wandte er sich zuerst zu dem Feuilleton als der geradezu typischen Literaturform der Disintegration, dem Psychologisieren Schnitzlers und Ästhetisieren Hofmannsthäls.

Doch gleichsam als ob ihn eine subli-mierte Form des Chandos-Erlebnisses Hofmannsthals am Weiterschreiten hindern würde, wandte er sich von der Sprache ab, der Kunst, der Architektur, dem Bild, der Musik zu. An der Sprachenfrage drohte in jenem Fin de Siecle das Vielvölkerreich zu zerbrechen, in den nichtsprachlichen Ausdrucksformen wurde es zum Geburtsland der Moderne!

Es ist faszinierend zu sehen, wie Schorskes Bemühen, den Zeitgeist des Fin de Siecle zu erfassen und zu analysieren, in der Interpretation der Werke - und der Person - Gustav Klimts kulminiert, und es ist noch faszinierender, wenn man sich bewußt wird, daß sich Schorske im Fortschreiten seines Erarbeitens von Geist und Kultur der Jahr-hundertwendedieTechnikKlimtsaneig-net, wie er sich löst von den Darstellungsformen traditioneller Ereignisgeschichte und gewissermaßen zur Mosaiktechnik, zur Symbolballung Klimt-scher Darstellungsart überwechselt.

Wie Klimt erschließen sich seine Essays nicht leicht, man muß diese Versuche einer Interpretation mitdenken und ausdeuten. Und man wird überrascht in allen Essays, ob es sich nun um die Untersuchung der Ringstraße als Geburt des modernen Urbanismus, die „schärfere Tonart” in der Geburt der Massendemokratie im Wirken Schönerers und Luegers, oder um die Essays über die Transformation des Gartens in den Schriften Hofmannsthals und Andri-ans und der „Explosion of the Garden” im Werk Kokoschkas und Schönbergs handelt.

Gewisse Leitmotive finden sich immer wieder, bis man zuletzt erkennt, daß in diesen Leitmotiven die historische Eigenheit des Fin de Siecle in Wien liegt: Es ist das Problem der Generation verschärft durch den sozialen Wandel, der sich im Gefolge der technischen Entwicklung vollzogen hat, dramatisiert durch die Ablösung aus den traditionellen Glaubensüberzeugungen und artikuliert in der Abkehr von den etablierten Normen und Formen, der „Sezession” in Kunst, Musik und Literatur.

Diese „Leitmotive” in Schorskes Denken werden von ihm strukturell eingesetzt in der Untersuchung von drei historischen Prozessen: Wien als Großstadt im Werden, das Bürgertum im Aufstieg und Abstieg des Liberalismus und - das Judentum in seiner Suche nach einer neuen Identität.

Es sind die Probleme eines Emanzipationsprozesses, dem Schorske nachspürt, dessen sozio-kulturelle Bedingtheit und dessen intellektuell-politische Wirkungen er aufzuzeigen versucht. Es ist auf den ersten Blick frappierend, daß Schorske in jedem seiner Essays Persönlichkeiten in den Vordergrund rückt: Schnitzler, Hofmannsthal, Otto Wagner, Camillo Sitte, Klimt, Stifter (!), Leopold v. Andrian, Kokoschka, Schönberg.

Doch mitten in der Lektüre merkt man plötzlich, daß Schorske nicht biographisch denkt, sondern daß er diese Individuen gewählt hat, weil sich in ihnen die Probleme der Emanzipation persönlich wie gesellschaftlich, intellektuell wie künstlerisch verdichtet haben, daß ihr Werk zum Schlüssel für das Verständnis des historischen Prozesses geworden ist.

Und so stößt man plötzlich auf die Feststellung, daß Schönbergs Zwölftonsystem Ausdruck der Abkehr von einer hierarchischen Ordnung im Tonsystem, die Einrichtung einer „Demokratie der Töne” darstellt - und wird sich bewußt, daß dieses Ereignis zusammenfällt mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts in Österreich, daß Klimts „neuer Stil” letzten Endes nichts anderes ist, als eine „Demokratisierung” der Bildelemente, eine Abschaffung hierarchischer Ordnung und. daß - Schorske hat das selbst nicht ausgesprochen - die Ringstraße, jenes „Paradebeispiel” der Repräsentation, im Grunde schon in ihrer kreisförmigen Anordnung die Uberwindung der hierarchischen Wertordnung darstellt.

Dynastie und katholische Kirche, sie suchten die Konzentration auf ein stabiles Wertsystem: Wissenschaft und Wirtschaft eröffneten sich der Unruhe der Bewegung! Städtebau als Quelle für eine Geschichte der Mentalität, Musik als Quelle für gesellschaftliche Emanzipation, Malerei als Quelle intellektuellphilosophischer Systeme, Literatur als Quelle für ökonomische Veränderungen: Schorske zeigt, wie sich durch die Integration der verschiedenen Forschungsfragen historische Aussagen gültig für das Wesen der Zeit als Ganzes und nicht nur als Detaildokumentation ergeben.

Wieviel könnten wir für die Ausformung eines gültigen österreichischen Geschichtsbildes gewinnen, wenn wir den Hochmut der Fachwissenschaften überwinden und Sozial-, Kunst-, Musik-, Wirtschafts- und Literaturgeschichte mit der politischen Geschichte integrieren würden.

Schorske hat auch der politischen Geschichte ihren Platz in seinem Essay-Zyklus eingeräumt, und es ist bezeichnend, daß er von einer Stilfrage seinen Ausgang genommen hat, um die Wesensveränderung der Wiener Politik in der zweiten Hälfte des 19. Jhdt. zu zeichnen:

„Politik in einer neuen Tonart: Ein österreichisches Trio”, so lautet der Titel des Kapitels, das dem deutschnationalen Radikalismus Georg v. Schönerers, dem christlichen Sozialismus Karl Luegers und dem Zionismus Theodor

Herzls gewidmet ist - drei Persönlichkeiten und drei Weltanschauungen, die man sich nur als Antagonismen vorstellen kann und die miteinander viel mehr gemeinsam hatten, als ihre Gefolgsleute je glauben konnten: Nicht nur weil sie alle drei Antworten auf die Herausforderung des liberalen weltbürgerlichen Kapitalismus waren, sondern weil sie ihre verschiedenen ideologischen Inhalte in gleiche Strukturelemente einordneten:

„In seinem Appell an die Massen vereinte Herzl archaische und futuristische Elemente in gleicher Weise wie Schönerer und Lueger. Alle drei verschrieben sich der Sache der Sozialen Gerechtigkeit... alle drei banden ihre modernen Aspirationen an archaische Gemeinschaftstraditionen ein: Schönerer an die germanischen Stammestraditionen, Lueger an die mittelalterliche katholische Sozialordnung, Herzl an das Königreich Israel vor der Diaspora. Alle drei verknüpften vorwärts und rückwärts, Erinnerung und Hoffnung, in ihren Ideologien.

Einmal mehr ist Schorske mit seinem Blick für Strukturen und Formen durch den Mantel polemischer Propaganda zum Wesen des historischen Geschehens vorgestoßen. Es ist schade, daß er der Bedeutung Luegers und der Christlichsozialen für die Umwandlung Wiens, für die Municipalisierung und „Sozialisierung” Wiens um die Jahrhundertwende keine Beachtung schenkt.

Der Hinweis darauf, wie Lueger eine Ideologie der alten Rechten, des österreichischen politischen Katholizismus in eine Ideologie einer neuen Linken, des Christlichen Sozialismus umgewandelt hat, wäre eingehender Ausführungen wert gewesen. Doch Schorske will ja nicht darlegen und erklären, er will andeuten, hinweisen, er fordert zum Denken heraus.

Es ist auffallend, daß Schorske, der sonst alle Bereiche des Lebens in seine Sicht zu integrieren sucht, an den ökonomischen Fragen vorbeigeht. Aber es ist ja auch charakteristisch für den Österreicher, daß er zwar seine Kultur und Bildung zur Schau stellt, seine wirtschaftlichen Leistungen und Erträge jedoch unterspielt und verbirgt.

Der österreichische Liberalismus basierte nur in einem ganz schmalen Bereich auf wirtschaftskapitalistischen Grundlagen, er war in seiner weiten Breite dem Rationalismus einer durch höhere Schulen ausgebildeten Funktionärsschicht entsprungen. In dem Essay „The Transformation of the Garden” zeichnet Schorske in der Analyse von Stifters Nachsommer die gesellschaftlich-ideologische Bindung von Bildung und Besitz, Bildung und Funktion als Charakteristikum des österreichischen Liberalismus.

Im Grunde sind auch Schorskes Essays von dieser Art der Betrachtung geprägt: Das Herauslösen aus dem Gesamtzusammenhang ermöglichte ihm die Analyse der Details, die nun, so wie sie aneinandergereiht präsentiert werden, Stück für Stück ihre Zusammengehörigkeit bewußt machen. Schorske selbst hat seine Essaysammlung mit einem Liederzyklus verglichen und der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß die einzelnen Stücke wechselseitig ihr Licht aufeinander werfen und so das Gesamtbild leuchten lassen.

Wir sollten diesen Gedankenzyklus so schnell wie möglich ins Deutsche übersetzen, damit jene, die lesen können, von ihm gezeigt erhalten, wie man in einem modernen Ansatz von Geistesgeschichte das Wissen um den Aufbruch in das 20. Jahrhundert rekonstruieren kann, das in den politischen Katastrophen dieses Jahrhunderts verschüttet worden ist.

FIN DE SIECLE VIENNA. Politics and Culture. Von Carl E. Schorske. Alfred A. Knüpf, New York 1980. 378 Seiten.

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