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Religion als Fundament

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Es gibt allerlei Beispiele dafür, daß eine unmittelbare Einflußmöglichkeit der Autoritäten der Kirchen auf die Mehrheit der Mitglieder der Gesellschaft in moralisch-politischen Grenzsituationen gegenwärtig nur beschränkt besteht. Dies mag damit Zusammenhängen, daß das persönliche Leben des einzelnen sich im Zuge eines vieljährigen Säkularisierungsprozesses von den strengen Lebens- und Sittenvorschriften der Religion entfernt hat.

Eine Untersuchung der Situation in den Nachbarländern Österreichs hat ergeben, daß die Län-

der mit den höchsten Pro-Kopf- Einkommen die geringste Anzahl der Eheschließungen haben und jene mit den niedrigsten Pro- Kopf-Einkommen die meisten Ehen. In den Ländern mit sogenanntem niederen Lebensstandard herrschen Mut und Freude zum Kind, in den Ländern mit höherer Konsumkraft ist die Kinderzahl geringer.

Die entgegengesetzt zum Einkommen laufende Entwicklung ist so stark, daß sie sich, was die Kinderanzahl und damit indirekt wohl auch die Zahl der Abtreibungen betrifft, auch nicht darum kümmert, ob in einem Land der Schwangerschaftsabbruch mit oder ohne Befristung erlaubt oder verboten ist.

Die Bundesrepublik Deutschland und die Schweiz kennen keinen straffreien Schwangerschaftsabbruch und auch keine sogenannte Fristenlösung und weisen dennoch eine geringere Geburtenrate als Österreich auf. Jugoslawien, Ungarn und die CSSR haben die Abtreibung freigegeben, dennoch kommen dort weit mehr Kinder als bei uns zur Welt.

Ich glaube freilich, es könnte heute, trotz einer vielfachen Distanz zur Glaubens- und Lebenslehre des Christentums und ganz unabhängig von der in Beziehung zur katholischen Kirche durch das Konkordat gegebenen Rechtssituation, kein staatliches Organ in Österreich auch nur daran denken, ein Kloster aufzuheben oder die Anzahl und den Zeitpunkt der heiligen Messen, die in einer Kirche gelesen werden dürfen, zu bestimmen oder andere Eingriffe in das innerkirchliche Leben zu wagen. Eine Partei, die hiefür die Verantwortung übernehmen müßte, hätte — anders als bei der Fristenlösung — mit einem sehr schweren Stimmenverlust zu rechnen.

Dasselbe hätte wohl seine Geltung für eine Einschränkung der Religions- und Verkündigungsfreiheit durch ein staatliches Dekret. Ich bin überzeugt, daß auch die Duldung eines Sturmes auf das Erzbischöfliche Palais, wie er am 8. Oktober 1938 stattgefunden hat, heute eine sehr eindrucksvolle Reaktion der großen Mehrheit auch jener Bevölkerung hervor- rufen würde, für die der Erzbischof von Wien nicht geistiger Hirte und Glaubensautorität ist.

Eine Antwort auf die Frage, ob unsere Gesellschaft noch mit Religion zu tun hat, kann aber auch von diesen illustrativen Erscheinungen allein noch nicht gefunden werden. Sie liegt offenbar in größerer Tiefe. Unsere Gesellschaft gründet sich auf Christentum und Antike. Ich folge gerne Carl Jaspers, wenn er 1947 in einer Durchleuchtung des Europas der Gegenwart schreibt:

„Stellt man aber die Frage, ob und was Europa ohne Bibel aus seinem vorbiblischen und vorchristlichen Ursprung sein könnte, so zeigt sich immer wieder: was wir sind, sind wir durch die biblische Religion und durch die Säkularisierungen, die aus dieser Religion hefvorgegangen sind, von den Grundlagen der Humanität bis zu den Motiven moderner Wissenschaft und zu den Antrieben unserer großen Philosophien. Es ist in der Tat so: ohne Bibel gleiten wir ins Nichts.“

Gerade wenn wir feststellen, was im Laufe der Jahrhunderte von der Religion in die gesellschaftliche und staatliche Ordnung rezipiert wurde, erkennen wir, daß in Wirklichkeit unsere Gesellschaft, die manchmal im Gegensatz zur Religion zu sein scheint, doch in einem sehr starken Maß auf der Religion ruht.

Nehmen wir doch einmal die irdisch orientierten Gebote des Dekalogs als Beispiel: Wir finden sie im Schutz der Integrität des Lebens und der körperlichen Sicherheit, im Schutz des Eigentums, im Wahrheitsgebot der Zeugenaussage, in der Institution der Ehe, auch in der Sorgepflicht nicht nur der Kinder für die Eltern, sondern auch der Eltern für die Kinder in den staatlichen Gesetzen wieder.

Die Religion ist nicht, wie Otto Bauer in einem Aufsatz über Gesellschaftsordnung und Religion schrieb, „die Ideologie des Heimatdorfes, welche die Landarbeiter und den Bauernsohn, die in die Stadt kommen, noch weiter bindet und von der sich erst die in der Stadt geborenen Kinder losreißen“.

Die Spuren der Religion bleiben über die Generationen hinweg in den Menschen. Dies mag für den Nichtgläubigen historisch und erbanlagemäßig erklärbar sein, für den gläubigen Menschen ist es erklärbar aus der Schöpfung Gottes und aus der Heilsaufgabe der Religion.

Aus einer Rede des Bundespräsidenten im Internationalen Kulturzentrum Wien.

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