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Religion und Alltag

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151 Berichte älterer Men- schen über ihre Alltagser- fahrungen mit Religion - das war das Rohmaterial für eine interessante soziologische Studie, die demnächst als Buch erscheint.

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151 Berichte älterer Men- schen über ihre Alltagser- fahrungen mit Religion - das war das Rohmaterial für eine interessante soziologische Studie, die demnächst als Buch erscheint.

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Das Thema Religion stellt nach wie vor eine Lücke in der sozial- wissenschaftlichen Forschimg dar. Dieses Defizit war der Anreiz für ein Projekt und für das dadurch entstandene Buch „Religion und Alltag - Interdisziplinäre Beiträge zu einer Sozialgeschichte des Ka- tholizismus in lebensgeschichtli- chen Aufzeichnungen".

Autobiographien und Biogra- phien von Randgruppen, seien sie nun schriftlich oder mündlich, bil- den sehr wichtige Anhaltspunkte für schichtspezifische Untersu-

chungen. Die Grundlage für das Buch ist eine Anzahl unveröffent- lichter Manuskripte aus einer Do- kumentation von lebensgeschicht- lichen Aufzeichnungen von Michael Mitterauer (Professor für Sozialge- schichte an der Universität Wien). Diese Sammlung soll die besondere Eigenart der autobiographischen Quellen aus ihrer Entstehung er- klären und kann aufzeigen, welche Fragestellungen sich im Zusam- menhang mit dem Alltagsleben ergeben. Zur Untersuchung lagen 151 Manuskripte älterer Menschen vor. Diese Autobiographien enthiel- ten fast alle Hinweise zu religiösen Erfahrungen, die im vorliegenden Buch herausgearbeitet und doku- mentiert werden.

Das Werk „Religion und Alltag" ist eine Verbindung von theoreti- schen Konzepten und autobiogra- phischen Quellen. Diesem Thema wird in Zukunft sicherlich mehr Beachtung geschenkt werden, und die biographische Forschung kann dazu ihren Beitrag leisten.

Katholische Praxis verliert in-

nerhalb der modernen Indivi- dualisierungsvorgänge an öffent- licher Bedeutung und Kontrollier- barkeit. Religion verflüchtigt sich ins Private, in die Intimität des Ab- geschiedenen, verkümmert letztlich zu einer psychischen und mentalen Kategorie, die immer schwerer sozial und wissenschaftlich greif- bar sein wird. Neue Formen der Alltagsbewältigung, die nur mehr schwer vermittelbar sind mit den Doktrinen der kirchlichen Institu- tionen, treten an die Stelle der al- ten. Für die Leute zählt nicht die orthodoxe Satzwahrheit, die rech- te Lehre, sondern die praktische Lebensrelevanz, das, was nutzt, was praktikabel, was recht ist. Man deckt den Transzendenzbedarf individuell ab. Erzählbestände, Gedankengut und symbolische Praxis im familialen oder geogra- phischen Zusammenhang gewinnen an Bedeutung.

Religion und religiöse Lebens- vollzüge müssen, wollen sie eine soziale Wirkung und Wirksamkeit erreichen, rational nachvollziehbar sein. Wenn religiöse Formen nicht mehr mit der Entwicklung des in- tellektuellen Bewußtseins Schritt halten, kommt es zu Prozessen der Emanzipation von herkömmlichen Sozialformen des Christentums. Katholischsein erscheint dann eher als Regression und ein museales Relikt aus Kindheits- und Schulta- gen. Lebensgeschichtliche Persön- lichkeitsentwicklung und histo- risch-sozialer Wandel setzen Glau- bensinhalte und -formen kritischer Reflexion aus und benötigen neue

Rechtfertigungen.

Da diese häufig nicht geleistet werden, erhöht sich das Potential einer zunächst inneren Distanzie- rung, Irritationen entstehen. In einer eher kirchenamtlichen Per- spektive wird die gegenwärtige kirchliche Praxis mit den Katego- rien von Zerfall, Auflösung und Bedeutungsverlust gedeutet. Sol- che bewertende Etiketten impli- zieren Handlungsoptionen, frühe- re Bedeutungen von Religion wie- derzugewinnen, dem Zerfall der Religion durch pädagogisierende Ermahnungen, Bildungsarbeit, aufklärerische Anstrengungen - etwa an die Adresse der Familie - Einhalt zu gebieten. Die Analysen zeigen, daß solche Deutungsmuster vorschnell sind.

Offensichtlich wird im histori- schen Längsschnitt ein Bedeu- tungswandel von Religion. Der so- ziale Wandel von Religion und Kirchlichkeit beginnt in den Mi- lieus mindestens schon um die Jahr- hundertwende. In den Autobio- graphien sind die entsprechenden Brüche individuell vorgezeichnet. Hier werden sie als kollektive Er- scheinungen empirisch erfaßbar und im Bewußtsein einer gewan- delten Zeit reflektiert.

Das ist vielleicht eine der auf- fälligsten Beobachtungen in den Analysen. Das Material stammt ja weitgehend aus der ersten Hälfte

dieses Jahrhunderts. Im indivi- duellen Erleben zeichnen sich be- reits viele Themen (Kirchendistan- zierung, Auseinanderklaffen von gelehrter Doktrin und gelebter Praxis, Auswahlverhalten im Umgang mit den normativen Vor- gaben) ab, die etwa Mitte der zwei- ten Jahrhunderthälfte dann empi- risch registrierbar werden.

In den Autobiographien kann seismographisch der sich ankün- digende Plausibilitätsverlust einer sozialen Form des Katholizismus, die sich eher auf Moral und Autori- tät, auf Gefolgschaftstreue und Gehorsam gründete als auf Ich- Stärke und innere Plausibilität, registriert werden. In dieser Form ließ sich Katholizität oft schon zu Beginn dieses Jahrhunderts nicht mehr durchgängig plausibilisieren. Ihre Schematisierung heute allein unter einer Kategorie wie Säkula- risierung, die unterstellt, daß die Homogenität der Normalfall war, läßt sich durch das autobiographi- sche Material als historisch unzu- reichender Ansatz disqualifizieren.

In Biographien wird katholische Religion häufig zum Thema ge- macht, wenn Brüche in der Bio- graphie erlebt wurden. Jemand weigert sich, das Tischgebet mit- zuvollziehen. Die bislang selbst- verständliche Ordnung ist bedroht, Handlungsalternativen werden sichtbar. Die überkommene Form von Religiosität wird überhaupt erstmals befragbar und dann im- mer mehr als ganze fragwürdig. Das Verlassen des Elternhauses bedeu- tet immer eine solche Bruchsitua- tion. Es müssen neue soziale Regeln gelernt werden. Galt bisher, daß das Heilige und Religiöse und die sie verkörpernden Autoritäten nicht kritisiert werden, so ist vielleicht im neuen Milieu Kritik der Nor- malfall.

Der Autor, Theologe und Sozialwissenschaf- ter, ist Lehrbeauftragter an den Universitäten Wien, Mainz, Klagenfurt.

Vorabdruck aus: RELIGION UND ALLTAG - Interdisziplinäre Beiträge zu einer Sozial- geschichte des Katholizismus. Von Andreas Heller (Hg.). Böhlau Verlag, Wien - Köln 1990, 302 Seiten, öS 380,- (Erscheinungstermin: 25. September 1990

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