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Republik der Literatur

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Literatur besteht nicht nur aus der Summe aller Gedichte, Prosastücke, Dramen und Essays; sondern auch aus einem schwer überschaubaren Netzwerk geistiger und — was die verlegerische Tätigkeit, den Buchhandel und bis zu einem gewissen Grade die Journale betrifft — ökonomisch wirksamer Wahlverwandtschaften und Gegnerschaften, die gemeinsam ein ebenso sensibles wie umfassendes Kraftfeld bilden. Seine Funktionsfähigkeit wird in nicht geringem Maße durch die Wechselbeziehungen zwischen einzelnen Autoren, Gesinnungsgemeinschaften und bunt zusammengewürfelten Gruppen bestimmt. Bereits die Tätigkeit von Erasmus von Rotterdam und von Voltaire war auf diese Erkenntnis begründet.

Seitdem das maßgebliche Urteil — wer weiß, mit welchem Recht? — sich bereit findet, zwischen hoher

Dichtkunst und seichter Unterhaltung zu unterscheiden, also seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts — und heute nirgends derart radikal wie gerade im deutschen Sprachraum —, ist die Beschaffenheit dieses Kraftfeldes noch komplizierter geworden. Die Zahl der Leser hat für das Werturteil meistens keine Bedeutung, es gibt aber auch Ausnahmen, die die Regel öfters bestätigen. Heinz Kon- salik sehnt sich (wohl verständlicherweise) vergeblich nach literarischer Anerkennung; der gewissenhafte Johannes Mario Simmel wird (wahrscheinlich mit geringerem Recht) den oberflächlichen Unterhaltern zugezählt; selbst der in der Welt bisher erfolgreichste — und intellektuell gewiß nicht simple — deutschsprachige Erzähler, Stefan Zweig, wird vom allgemein anerkannten Werturteil nur halbherzig gewürdigt.

Amüsant zu betrachten ist in diesem Zusammenhang, daß das gestrenge Lechzen nach dem Hehren und Holden seine Maßstäbe in kindlicher Naivität plötzlich zu vergessen bereit ist, sobald der Autor sich - durch seinen Namen und sein Thema—als Angehöriger einer anderen Literatur zu erkennen gibt. Graham Greene, Isaac Bashevis Singer, Simone de Beauvoir, selbst die gewiß recht oft kolportagenhaften Romanautoren Jurij Trifonow und Gabriel Garcia Marquez genießen im deutschen Sprachraum hohe Achtung, von Alberto Moravia ganz zu schweigen. Hätten sie ihre Bücher in deutscher Sprache verfaßt, so müßten sie ein Schicksal etwa zwischen Simmel und Zweig erleiden.

Solche Arabesken der Kulturgeschichte bestimmen freilich nicht nur die Gegenwart; sie erstrecken sich auch auf die Vergangenheit. Eine gute Hälfte der

Träger des Nobel-Preises für Literatur ist längst vergessen, unter ihnen auch bedeutende Autoren wie der Schweizer Carl Spitteier, dessen Roman „Imago“ für seine heutzutage gewiß kleine Leserschaft unvergeßlich bleibt. Wer von uns erinnert sich an den gewiß vorzüglichen italienischen Lyriker Salvatore Quasimodo (1901—1968), der den Nobel-Preis im Jahre 1959 erhalten hat?

Persönliche Begegnungen von Autoren können auf die Beschaffenheit des Kraftfelds, das wir literarisches Leben nennen, gewiß eine ganz bestimmte Wirkung haben. In dieser Hinsicht könnte die am 12. April beginnende Regionalkonferenz des österreichischen PEN-Clubs Bedeutung gewinnen. Sie vereint Autoren aus Bulgarien, der Bundesrepublik, der DDR, aus Italien, Jugoslawien, Liechtenstein, Polen, Ungarn, der Schweiz und der Tschechoslowakei, Exilautoren aus England und Deutschland, freilich auch Österreicher — unter ihnen Schriftsteller slowenischer und kroatischer Muttersprache — zum umfassenden Gedankenaustausch. Daß der Außenminister Österreichs die Regionalkonferenz eröffnet, gibt dem Treffen ebenso politische Bedeutung wie die Tatsache, daß der PEN-Club der DDR auf eine offizielle Teilnahme verzichten wollte, während einige — und nicht nur oppositionelle — Autoren der CSSR die Gelegenheit nützen möchten, ihren seit mehr als zwei Jahrzehnten ruhenden PEN-Club wiederzubeleben. Die Teilnahme des bedeutenden französischen Lyrikers Renė Tavernier (Vizepräsident des Internationalen PEN- Clubs) gibt dem Gedankenaustausch zusätzlich Gewicht; der internationale Generalsekretär des PEN, Alexandre Blokh (unter seinem Pseudonym Jean Blot der französischen Öffentlichkeit als Erzähler, Essayist und Kunstkritiker wohlbekannt), wird Gelegenheit finden, wesentliche kulturpolitische Vorgänge darzustellen: nachdem die Autoren der Volksrepublik China dem PEN beigetreten sind, erwägen nun sowjetische Autoren die Gründung eines eigenen PEN-Clubs. Damit wäre, im Sinne einer von sowjetischen Reformern angestrebten Pluralität, eine Alternative zum mächtigen, allerdings zum Teil bereits von Autoren der „Perestrojka“ geleiteten, sowjetischen Schriftstellerverband geschaffen. Vielleicht könnte dieser neue PEN-Club der Sowjetunion (mit fünf Zentren, die den wichtigsten fünf Sprachen des ausgedehnten Reiches entsprechen) anläßlich des PEN-Weltkongresses in Wien 1991 dieser einzigen Weltorganisation der Literaten beitreten.

Am 5. Oktober 1921, an dem Abend, an dem sich jemand — und es wird niemals ergründet werden können, wer es gewesen ist — den ersten Bissen in den Mund schob anläßlich des ersten Abendessens des neu gegründeten PEN-Clubs, ahnte die Erfinderin des neuen dinner-clubs gewiß nicht, was sie da ins Leben gerufen hatte. Catherine Amy Daw- son-Scott (1865-1934) gehörte zu den sendungsbewußten, wenngleich literarisch nicht allzu bedeutenden Erzählerinnen der englischen Literatur; sie war sendungsbewußt und vielleicht ein wenig schwärmerisch, gewiß eine Feministin der gemäßigten Art. Sie träumte von einer „Republik der Literatur“, die „die Nationen enger miteinander verknüpfen sollte“. Es gelang ihr, den damals sehr angesehenen — und bei uns seither zu Unrecht halb vergessenen—John Galsworthy zu überreden, die Präsidentschaft des neuen dinner-clubs zu übernehmen. Drei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs’, in einer Zeit eines neuen Aufbruchs — der neue Fanatismen, aber auch neue Kräfte des Humanismus zutage treten ließ —, entwickelte die Idee besondere Kraft. Bereits im Frühjahr 1923, anläßlich eines internationalen Kongresses in London, waren die Vertreter von elf PEN-Zen- tren anwesend; im nächsten Jahr kamen sieben weitere dazu. In Österreich war es Arthur Schnitzler, der sich bereit fand, einen PEN-Club zu gründen.

Der PEN-Kongreß in Dubrovnik, 1933, gab dem österreichischen PEN, vor allem durch das

Auftreten des Dramatikers Franz Theodor Csokor, der gemeinsam mit seinem Freund ödön von Horvath den Nationalsozialismus nicht nur verabscheute, sondern auch bekämpfte, jene Richtung — und jenen Geist —, die die Tätigkeit des PEN in Österreich über allen Wellenhöhen und Wellentälern der Überheblichkeit, der Defensive und der Zuversicht bis heute geprägt hat und immer noch bestimmt. Dem humanistischen Vermächtnis Csokors entsprechend, ist der österreichische PEN keine Gesinnungsgemeinschaft, sondern eine Vereinigung von Individualisten und also ein Gebilde des Pluralismus. In diesem Sinne steht der PEN für alle österreichischen Autoren offen, ja er ist verpflichtet, jeden wirklichen Schriftsteller, der sich zur PEN-Charta bekennt, aufzunehmen.

Was Catherine Amy Daw- son-Scott bewirken wollte, ist — obwohl wir die gewiß schwärmerischen Züge ihres Wesens nicht vergessen wollen — in all den Jahrzehnten nicht anachronistisch geworden. Die Regionalkonferenz des österreichischen PEN hat sich nicht ohne Grund dem Thema „Das freie Wort zwischen Ideologie und Kommerz“ verpflichtet. In der Tat leidet die Literatur in den absolutistischen Systemen des Kommunismus unter der Vorherrschaft der Ideologie, unter den Verhältnissen der freien Marktwirtschaft aber unter jenen finanziellen Berechnungen, die das Erscheinen — oder den durch entsprechende Werbung unterstützten Erfolg—ganz bestimmter bedeutender Werke verhindern oder erschweren. Das Kraftfeld, auf dem sich die Autoren des ausgehenden 20. Jahrhunderts zu be haupten haben, ist unübersichtlich, und es gibt Wesentliches, das kein Gehör findet, während das Modische, wenn es nur plakativ genug aufzutreten vermag, sich der Zustimmung einer großen Leserschaft versichert und unter all den Ratlosen an Wirkung gewinnt.

Die Idee der Catherine Amy Dawson-Scott, ihre Vorstellung einer „Republik der Literaten“, kann auch gegenwärtig heilsam wirken, zum Beispiel, um die jäh aufgebrochenen Konflikte (etwa zwischen den Schriftstellern der jugoslawischen Teilrepubliken) durch die Idee einer mitteleuropäischen Zusammenarbeit zu entschärfen — wobei in diesem Zusammenhang gewiß niemand an die Strukturen des alten Reiches Österreich-Ungarn denkt, sondern allein an die Zukunft der notwendigerweise aneinandergerückten europäischen Regionen. Auch andere Konflikte nationalistischer Art sind in der Zwischenzeit aufgebrochen: die Regionalkonferenz des österreichischen PEN könnte dazu beitragen, den Streit zu entschärfen oder der Auseinandersetzung einen sinnvolleren Verlauf zu geben.

Die Welt wird durch die Regionalkonferenz freilich nicht verändert, aber die Hoffnung besteht, daß wir einander nach dieser Beratung besser verstehen. ,.Bestehen“ und „Verstehen“ wurzeln im Wort „Stehen“. In diesem ist der aufrechte Gang und mit diesem auch der Begriff Aufrichtigkeit evoziert. Die Möglichkeiten des PEN sind begrenzt, aber nicht gering. Sie zu nützen ist eine Aufgabe, die über das Kraftfeld des literarischen Lebens mit all seinen Fragwürdigkeiten hinausreicht: zum Augenblick der Inspiration und in die Zeitlosig- keit ihrer Wirkung.

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