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Respekt vor dem Aufbruch
Eine Reise nach Warschau, Bukarest und Sofia läßt sehr anschaulich erkennen: Jedes dieser Länder - Polen, Rumänien, Bulgarien - hat seine Besonderheiten der Revolution, der noch vorhandenen Erinnerung an Demokratie und jeweils einen eigenen sehr ausgeprägten Volkscharakter.
In Polen war die Landwirtschaft auch im Kommunismus zu etwa 70 Prozent in privater Hand, in den anderen Volksdemokratien total verstaatlicht. In Polen hatte die katholische Kirche auch in den finstersten Phasen eine große, autonome Macht, während in Rumänien und Bulgarien die Orthodoxie weitgehend mit den kommunistischen Regierungen kollaboriert.
In Rumänien ist die Macht der Securitate immer noch beträchtlich, das heißt aber nicht, daß dort Kommunismus herrscht, beinahe im Gegenteil. Die Securitate hat sich auf Marktwirtschaft umgestellt, sie hat Geld, ruinierte staatliche Betriebe oder Geschäfte „privat” zu erwerben und in Joint ventures mit dem Westen einzubringen. In Rumänien etablieren sich zahlreiche türkische Privatunternehmer.
In Sofia wiederum hat die Opposition tatsächlich vorgezogene Neuwahlen im September erreicht. Der Kommunismus, so sind sich die meisten einig, sei zu Ende, aber die alten ruinösen Strukturen seien noch überall da.
Überall findet man das freie Wort, in Zeitungen, Zeitschriften, im Radio und im Femsehen sind schärfste kritische Artikel und Stellungnahmen zu lesen oder zu hören. Rasch hat sich eine hochqualifizierte Publizistik, ja politische Essayistik herausgebildet, die dem Westen größten Respekt abfordern sollte.
In den Theatern wird ohne jegliche Zensur gespielt, was immer interessant erscheint, in den Verlagen erscheinen zahlreiche bisher verteufelte Bücher. Allerdings fehlen die bisher im Propagandaressort begründeten hohen Subventionen. Den Verlagen fehlt das Papier, die Theater sind teilweise nur spärlich besucht.
„Sommernachtstraum” in der ebenso strengen wie herrlich phantasievollen Regie von Liviu Ciulei ist in Bukarest auf Wochen ausverkauft, ebenso Molieres „Don Juan” und die Einakter Vaclav Havels in Jan Grossmans Inszenierung im Prager „Theater am Geländer”. Jahrzehntelange Routine lockt niemanden, doch hervorragende Aufführungen werden gestürmt.
In all diesen Ländern zeigt sich, daß die Freiheit viel schwieriger zu leben ist als erwartet, vor allem wenn sie auf Ruinen aufgebaut werden muß. Ein Eindruck ist evident: eine neue Kategorie des Lebens hat begonnen. Die Richtung stimmt, aber die Probleme sind gewaltig, aber gerade Probleme sind ein Kapital der Kultur.
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