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Resümee einer Leidensgeschichte
Professor Paul O'Grady, amerikanischer Historiker, der an der Universität Dublin promovierte, faßt die Wurzeln und Höhepunkte des nordirischen Konfliktes zusammen.
Professor Paul O'Grady, amerikanischer Historiker, der an der Universität Dublin promovierte, faßt die Wurzeln und Höhepunkte des nordirischen Konfliktes zusammen.
Die gegenwärtigen Unruhen in Ulster müssen im Zusammenhang mit der 800jährigen tragischen Verwicklung zwischen Irland und England gesehen werden. Jahrhundertelang schloß England die Nachbarinsel in die eigenen Sicherheitsüberlegungen ein, und Irland wurde deshalb von den Briten auch besetzt. Doch die Iren ließen sich nicht assimilieren. Dabei hatte ein Assimilierungsprozeß bereits im 12. Jahrhundert eingesetzt, der jedoch mit der Reformation im 16. Jahrhundert abrupt endete: Denn die Iren blieben im Gegensatz zu Engländern, Schotten und Walisern katholisch!
1609 siedelte König James I. eine große Zahl protestantischer Schotten und Engländer in Ulster an, um die Insel besser kontrollieren zu können. Die Iren wurden von ihren Ländereien vertrieben oder zu Pächtern ihres Eigentums gemacht.' Von diesem Zeitpunkt an gab es in Ulster keine Gemeinschaft mehr, sondern zwei voneinander getrennte religiöse Gruppen.
1845 brach eine furchtbare Hungerkatastrophe in Irland aus. In wenigen Jahren schrumpfte die Bevölkerung von acht auf vier Millionen. Hunderttausende starben, Millionen mußten auswandern, zumeist nach Amerika, wo ein Großteil der Nachkommenschaft auch heute noch antibritisch eingestellt ist. Aus diesen amerikanischen Kreisen erhält die Irische Republikanische Armee (IRA) auch hauptsächlich die finanzielle Unterstützung.
1921 erhielten die 26 „counties“ im Süden Irlands die Unabhängigkeit, sechs der neun „counties“ von Ulster wurden Großbritannien einverleibt. Nordirland erhielt ein eigenes Parlament - den „Stormont“ - und eine autonome regionale Verwaltung zugesprochen. Zur Zeit dieser Teilung waren 67 Prozent der Bevölkerung von Ulster protestantisch, 33 Prozent katholisch. Eine einzige politische Partei, die „Unionisten“, repräsentierte die Protestanten, die katholische Minderheit hingegen wurde von der Regierung ausgeschlossen. In den Augen der Protestanten waren die Katholiken treulose Mitbürger, zogen sie doch die Vereinigung mit-der Republik Irland der Union mit Großbritannien vor. Vor allem aber fürchteten die Protestanten die höhere katholische Geburtenrate: Schließlich würde diese die Protestanten eines Tages selbst zu einer Minderheit machen.
Um das zu verhindern, verfolgten die Protestanten eine brutale Dis-kriminierungspolitik gegenüber der Minderheit: Arbeitsplätze oder Wohnungen wurden grundsätzlich nicht an Katholiken vergeben, und durch Wahlschiebung hielten die Protestanten die Kontrolle über katholische Bezirke. Der Zweck dieser Unterdrückungsstrategie: Katholiken sollten zur Auswanderung gezwungen werden!
Eine britische Bildungsreform im Jahre 1948 eröffnete auch armen nordirischen Katholiken die Möglichkeit, höhere Schulen und Universitäten zu besuchen. Es war diese Generation gebildeter, aber unzufriedener Katholiken, die 1968 die Bürgerrechtsbewegung organisierte und anführte. Inspiriert von der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und von der französischen Studentenrevolte, fingen die Katholiken an, in friedlichen Demonstrationen Chancengleichheit zu fordern.
Die Gewalttätigkeiten begannen, als protestantische Extremisten zusammen mit der „Royal Ulster Con-stabulary“ (RUC) - die nordirische Polizei - diese Demonstrationen auseinandertrieben. Was folgte, war eine Eskalation der Gewalt: 1969: Vom protestantischen Pastor Ian Paisley aufgehetzte Massen greifen wiederholt katholische Bürgerrechtler an. Im Belfaster Vorort Ardoyne werden Katholiken „ausgebrannt“. Die britische Armee tritt stärker in Erscheinung.
1971: Trotz des immer offeneren Bürgerkrieges erhalten die Katholiken noch immer keine politischen Konzessionen. Die IRA wird durch die wachsende Brutalität wieder stärker und erhält vermehrt Zulauf in den katholischen Gettos. Sie beginnt nun auch die britische Armee anzugreifen. Auch die Zahl extremistischer protestantischer Gruppen nimmt zu. Am Ende des Jahres sind 139 Todesopfer zu beklagen, davon 34 britische Soldaten.
1972: 20. Jänner, „Blutiger Sonntag“ in Londonderry. Britische Soldaten erschießen 13 katholische Demonstranten, die gegen die Internierungen protestierten. Kurz danach löst die britische Regierung den „Stormont“ auf. 467 Menschen werden in diesem Jahr getötet.
1973: Die Briten versuchen eine Regierung zu installieren, an d^r beide Religionsgemeinschaften beteiligt sein sollen. Protestantische Loyalisten beginnen eine Serie wahlloser Morde an Katholiken. Bis 1977 fordert der Bürgerkrieg jedes Jahr an die 250 Todesopfer.
1974: Das britische Experiment der „geteilten Macht“ scheitert, als die Protestanten einen allgemeinen Generalstreik durchführen. Nordirland wird von jetzt an nur noch von London aus regiert
1975: Die IRA beginnt ihre Terroraktivität nun auch auf England auszuweiten.
1976: Eine von nordirischen Frauen organisierte Friedensbewegung stößt auf weltweites Echo, die Unterstützung der nordirischen Bevölkerung ist jedoch nur beschränkt.
1977: Die RUC versucht die Kontrolle in den städtischen Gettos wiederzuerlangen. Die Zahl der Todesopfer sinkt auf 111.
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