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Retten uns Majoritäten besserer Einsicht?

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FURCHE: Man spricht heute gern vom Paradigmenwechsel, auch das Bild der verschiedenen Disziplinen vom Menschen ist offenbar einem solchen unterworfen ...

RUPERT RIEDL: Es ist eben so, daß es in jedem Weltbild eine Fülle unerklärter Phänomene gibt und wir uns über diese Schwierigkeit mit den sogenannten Paradigmen hinweghelfen. Die Paradigmen sind Vereinbarungssysteme. Sie sind in einer merkwürdigen Weise mit Wahrheitsansprüchen verflochten. Die Schwierigkeit, Paradigmen zu überwinden, hat damit zu tun, daß es außerordentlich sqhwer ist, eine Sprache zu wechseln. Man muß sich auch vor Augen halten, daß ein Wissenschaftler ein ungeheures Sachgebiet mit allen seinen Wechselbeziehungen in einem Balanceakt der Ordnung halten muß: die, wenn man einige Grundstützen daraus wegzöge, zu einem ungeheuren, auch menschlichen Kollaps führen würde.

Daher wird Max Planck wohl recht haben, der gesagt hat, daß die großen Wandlungen in der Wissenschaft darauf beruhen, daß die Alten allmählich abtreten und die Jungen das, womit sie aufgewachsen sind, für selbstverständlich halten. Darüber nachgedacht wird kaum, sondern es ist so ein Sicker- oder Unterlaufprozeß, bei dem nur ganz wenige nachdenken und es zu Wechseln kommt, bei denen es eher mit Machtverhältnissen von Sozietäten zu tun hat, ob sich etwas durchsetzt. Interessant dabei ist auch, daß diejenigen Persönlichkeiten, die die großen Umbrüche erzeugt haben, an der Auseinandersetzung nie beteiligt waren, sondern daß das zwei, drei Generationen später erfolgt ist.

FURCHE: Oder sie wird von anderen erledigt, siehe Darwin und Huxley.

RIEDL: Ja, er zog sich mit seiner großen Entdeckung zurück und Huxley in England und Haek-kel in Deutschland haben sie durchgefochten. Gar nicht so verschieden heute.

FURCHE: Bedeutet das nicht Chancen, Schlupflöcher, für das Neue, unter Umständen sogar für die Wahrheit?

RIEDL: Ja, sicher ist bei dem ganzen ein Lernprozeß dahinter, aber ein ziemlich langsamer, so, wie das langsame Einsickern der ganzen Umweltproblematik da hineingehört, oder das Phänomen der Umweltministerien, die ja auch nicht aufgrund tieferer Weisheit politischer Fraktionen entstanden sind, sondern aufgrund bürgerlicher Unruhe.

FURCHE: Danach könnte man den Eindruck gewinnen, daß das Bild, das sich ein Evolutionsforscher vom Menschen macht, nicht weniger von seinen sozialen Erfahrungen bestimmt ist als von wissenschaftlichen Erkenntnissen.

RIEDL: Wer in die Lage gekommen ist, Röntgenaugen für unsere Zivilisation zu entwickeln, der hatte auch das Gruseln zu lernen. Was uns passiert ist, ist, daß wir schneller mächtig als weise geworden sind. Das ist ein elementares Problem.

FURCHE: Unterscheidet sich das Bild vom Menschen der Naturwissenschaften von dem der Geisteswissenschaften und Religionen Ihrer Ansicht fundamental, wo sind die Differenzen, wo mögliche Brücken?

RIEDL: Aus meiner naturwissenschaftlichen Sicht würde ich sagen, daß unsere Situation durch Spät- oder Nachformen der Aufklärung gekennzeichnet ist. Wenn die Aufklärung gemeint hat, den Menschen durch das Machbare glücklicher machen zu können, hat das für damals sicher gestimmt, wir haben aber des Machbaren viel zu viel gemacht, sind über die menschlichen Dimensionen hinausgerast und haben die menschliche Struktur vergessen. Die Macht, die wir entwickeln konnten, von den physikalischen Kräften bis zu Supermächten oder multinationalen Konzernen, die die Welt eigentlich regieren, denn Kapitalströme sind ja auch ein Fluß von Macht, sind uns schauderhaft über den Kopf gewachsen.

Die Lösung kann nur darin bestehen, den Menschen besser zu verstehen, und was er in dieser Welt erwartet und wünscht, auch politisch machbar zu machen. Es

„Wir werden herausfinden, wie der Mensch wirklich gemacht ist“ müssen Majoritäten der besseren Einsicht entstehen. Ich glaube, fast alle anderen Möglichkeiten ausschließen zu müssen.

FURCHE: Kann man das so verstehen, daß zwar die Bilder, die Wissenschaften, Religionen, Sittenlehren vom Menschen haben, sich in der Beurteilung der Krise, in der die Menschheit ist, sehr nahe kommen?

RIEDL: Ich glaube, daß das in meinem Fach eine Herausforderung ist, weil die Biologie immer eine Mittelposition eingenommen hat zwischen den Geistes- und den sogenannten harten Naturwissenschaften, den anorganischen Wissenschaften, die die Welt im wesentlichen verändert haben. Auch wenn heute in das Gen eingegriffen wird, sind es ja Biochemiker und Biophysiker, die das machen, das ist eine ganz andere Menschengruppe als die Biologen im engeren Sinne.

FURCHE: Wieso das?

RIEDL: Mit einer anderen Bildungsstruktur. Wenn man aus einem Institut für Physik kommt, glaubt man eben an die Leistungen deduktiver Systeme, an Axiomatik, an die Notwendigkeit erstens der Metrisierung, dann der Formalisierung von Naturphänomenen — alles andere, wenn der Mann nicht wirklich sehr gebildet ist, ist Geschichtenerzählen.

FURCHE: Aber gerade aus dieser Ecke kommen doch heute auch sehr viele Skeptiker dieses Systems!

RIEDL: Ah, das ist mein Punkt, daß dieser Graben nun auch von der Seite der Anorganiker zugeschüttet wird. Sie, die immer behauptet haben: Ihr seid Geschichtenerzähler, wir aber operieren mit ewigen Gesetzen - sie bemerken, daß es gar nicht so ist. Wir müssen begreifen, in einer nicht wiederholbaren Welt zu leben und daß wir, angeleitet durch diese anorganischen Wissenschaften, letzten Endes so lang die Welt vereinfacht haben, bis wir einiges davon nachahmen konnten.

Sie haben enormes nachahmen können, sie können schon den genetischen Code zusammenbasteln, daß sie aber das, was immer noch ein kleiner Teil dieser Welt ist, der nachahmbar ist, mit der realen Welt verwechselt haben — das ist die Katastrophe. Wir sind selber ein bescheidener und labiler Teil in dieser Biosphäre, die wir sofort kaputtmachen werden — und wir sind mitten dabei!

FURCHE: Immer mehr Naturwissenschaftler setzen heute mit der Diagnose der Fehlentwicklungen bei sich selber an.

RIEDL: Ja, das ist gut, weil hier ja viel Verantwortung getragen werden müßte. Man muß sich vor Augen halten, daß diese Welt durch die Herero oder durch die Papua nicht gefährdet ist. Merk-. würdigerweise ist sie durch diese sozialkapitalistischen industrialisierten Erfolgsgesellschaften gefährdet. Gerade von jenen, die offenbar am meisten wissen.

FURCHE: Nun gibt es aber schon sehr früh in der Geschichte Leitbilder, Ideale. Alle großen Sittenlehren und Religionen bringen eine bestimmte Vorstellung vom Menschen hervor, wie er zu sein hat, und diese Vorstellung wird dann geschichtsmächtig. Die Eingrenzung dessen, was Sie beschrieben haben, ist doch etwas, worum sich die Menschheit seit Jahrtausenden bemüht. Die Angst vor der menschlichen Natur begegnet uns schon in der Antike.

RIEDL: Aber das sind Annahmensysteme, das ist Metaphysik!

FURCHE: Warum nicht ebenfalls Produkt von Erfahrung?

RIEDL: Wenn dies Produkt von Erfahrung wäre, könnte man ja über die Unterschiede der Auffassungen reden. Wo findet sich denn die Bereitschaft zu einer gemeinsamen Wahrheit? Es sind

Vereinbarlichkeiten, die in einer anderen Weise in Richtung auf eine Humanisierung der Menschen hinwirken. Mir geht es um die Aufdeckung menschlicher Universalien, an deren Erforschung man unabhängig vom philosophischen oder metaphysischen Hintergrund eingeladen ist, mitzuwirken. Wir werden herausfinden, wie der Mensch wirklich gemacht ist, und auf was für eine Welt er Anspruch hat dank der Ausstattung, die er selber mitgebracht hat.

FURCHE: Und wie weit sehen Sie das in einer historischen Kontinuität?

RIEDL: Ich halte es insofern für etwas neues, als wir, wenn Sie das meinem langen Zeitlauf evoluti-ver Prozesse sehen wollen, nun in die Lage kommen, über unsere eigene Ausstattung zu reden. Wir sind ausgestattet mit Bewußtsein, bestimmten angeborenen Anschauungsformen, wir glauben, von Haus aus zu wissen, was Wahrscheinlichkeit, Vergleichbarkeit, Kausalität, Finalität sind, sind dabei, einer uns über den Kopf gewachsenen Komplikation zu erliegen, stehen hypnotisiert vor einem Desaster und fragen, wie man da herauskommen kann.

Meine Antwort lautet: Lerne dich selber kennen! Uberall, wo wir aufgrund unserer angeborenen Anschauungsformen fortgesetzt an unseren Prognosen scheitern, muß was falsch sein.

FURCHE: An welchen Prognosen scheitern wir heute hauptsächlich?

RIEDL: Na, zum Beispiel einfach das wirtschaftliche System. Wir kommen mit unseren gepriesenen Gesellschaften, die uns ja einigen Komfort liefern, aus der Schere zwischen Arbeitslosigkeit und Geldverfall nicht heraus, das heißt, die Sache stimmt gar nicht. Wir können sie nur durch Wachs-

„Hypnotisiert vor dem Desaster: Lerne dich selber kennen!“ tum zurechtbasteln. Und wenn man den Politikern sagt: Jedes System, das vom Wachstum leben muß, muß an seinem Wachstum allein zugrundegehen, wird einem gesagt: Aber fünf Prozent müssen sein. Ohne daß irgendwie darüber nachgedacht würde, welches andere System wir verwenden sollen.

Oder denken Sie daran, daß jeder Mensch, jede gesunde Familie trachtet, den Kindern Werte weiterzugeben, wirtschaftliche oder Bildung, das hätte der Staat zu lernen. Wir honorieren Kurzzeitmoral, aber kein Langzeit-Ethos. Wir honorieren durch Wiederwahl Parteien mit Kurzzeit-Moral, hic et nunc, aber ohne Langzeit-Ethos, Vorausdenken. Wir sind nicht einmal noch in der Lage, Bruttonationalvermögen zu messen. Wir rechnen in Bruttona-tionalprodukt, dem, was fortgesetzt läuft, und sind fortgesetzt dabei, Bruttonationalvermögen um vielfach mehr als eine Größenordnung mehr zu verlieren, als wir in Bruttonationalprodukt schaffen. Zum Beispiel, durch unsere Chemie- und Stahlkocher Wälder zu verlieren.

Wer hat den Wert von hundert Hektar Wald berechnet? Das ist ja nicht der Holzwert, der dort steht. Dazu kommt, daß er 120 Jahre nicht angerührt worden ist, die Erosion verhindert, die Erde hält, die Luft reinigt und so weiter, wir sind noch nicht einmal so weit, das bewerten zu können und verlieren fortgesetzt rund um die Erde Werte, weil wir Produkte fördern. Es ist zum Verrücktwerden.

Rupert Riedl ist Ordinarius für Zoologie der Meerestiere in Wien und Autor zahlreicher Werke über Evolutionsbiologie. Mit ihm sprach FURCHE-Reda kteur Hellmut Butterweck.

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