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Rettende Stromstöße

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Ich kenne keinen Organersatz, kein künstliches Organ, kein für einen Patienten nützliches Gerät, das in den letzten Jahren einen so großen technischen Fortschritt ge­macht hat, unauffälliger und pati­entenfreundlicher geworden ist und über so hohe Genauigkeit und Ver­läßlichkeit verfügt wie der Herz­schrittmacher.

Die Geräte, die Anfang des Jahr­hunderts entwickelt wurden, wa­ren so groß wie heute die Antriebs­aggregate des künstlichen Herzens. Dieser „Schrittmacher" in der Größe eines Nachtkästchens war mit dem Herzen durch Drähte ver­bunden, die auf das schlagende Herz aufgenäht wurden.

Der heutige Schrittmacher ist nicht größer als die oftmals zum Vergleich herangezogene Streich­holzschachtel, aber wesentlich dünner. Das Kabel wird durch eine Ader dem Herzen zugeführt und dieganze „Operation", die wir heute eigentlich nur mehr Eingriff nen­nen können, geschieht unter örtli­cher Betäubung in 20 Minuten. Na­türlich gibt es kompliziertere Ein­griffe oder Zweiteingriffe, dennoch: Standard ist der kurze Primärein­griff in Lokalanästhesie. Auch bei Patienten mit über 90 Jahren.

Der Schrittmacher erregt den Herzmuskel mit soviel Impulsen pro Minute wie das Herz braucht. Ein älterer, ruhiger Organismus ver­braucht weniger Energie als ein j un-ger, aktiver Organismus. Schlafen und Träumen verbrauchen weniger Energie als Wachen und Hasten.

Woher „weiß" das der Schritt­macher? Es gibt Rhythmusstörun­gen, die nur einen Teil jenes Sy­stems betreffen, das dem Herzen den Takt angibt. Solche „Blockie­rungen" verfügen noch über einen übergeordneten Teil, der intakt ist und weiß, wie schnell das Herz schlagen sollte. In einem solchen Fall ist es einfach. Eine zweite Elek­trode wird in den Vorhof gelegt und hat die Aufgabe, die Signale wahr­zunehmen. Diese richtigen Signale werden dem Schrittmacher zuge­führt, der sie seinerseits wieder der Herzkammer weitergibt. So schlägt dann das Herz im „eigenen" Takt, der über den Schrittmacher ver­mittelt wird. Was tun, wenn auch dieses System kaputt ist, also der körpereigene Taktgeber selbst krank ist? So eine Störung nennen wir Sinusknotensyndrom - der Taktgeber selbst bedarf der Erre­gung durch einen Schrittmacher.

Hier stehen wir mitten in einer interessanten Entwicklung. Wir suchen natürliche - also biologi­sche - Signale, an denen wir able­sen können, wie groß der momenta­ne Energieverbrauch gerade ist. Ganz einfach ist die Lösung mit dem kleinen Kristall. Die Schwin­gungen eines Kristalls werden ge­zählt. Je öfter der Kristall schwingt, desto mehr bewegt sich der Mensch, desto mehr soll sein Herz pumpen. Doch ein alter, in der Straßenbahn gerüttelter Patient wird zwar bewegt, aber er selbst verbraucht keine Energie. Trotz dieser Unge-nauigkeit muß man dem System bescheinigen, daß es simpel und fehlerfrei funktioniert - was nicht nur Chirurgen besticht, sondern auch Niederschlag in einem welt­weiten Verkaufsboom gefunden hat. In der Tat sind diese einfachen, ak­tivitätsgesteuerten Schrittmacher auch jene, die bei Herztransplan-tierten den besten Effekt zeigen. Gott sei Dank brauchen aber nur wenige Menschen mit einem neuen Herzen auch einen Schrittmacher.

Die Temperatur des Blutes ist ein anderer Aktivitäts-Anzeiger. Wem kalt ist, der bewegt sich. Es kommt zur Erwärmung des Blutes durch die Muskeln, die das warme Blut in Richtung Herz schicken. Dort kann die Bluttemperatur leicht gemes­sen werden. Höhere Temperatur hat höhere Herzfrequenz zur Folge. Auch bei Fieber schlägt das Herz schneller. Nachteil dieses Systems ist der langsame Start: Man muß schon etwas Bewegung gemacht haben, bevor der Schrittmacher „weiß", daß der Körper mehr Ener­gie braucht.

Geht jemandem „die Luft aus", atmet er schneller. Der Kreislauf braucht mehr Sauerstoff von au­ßen, damit das Blut in den Lungen nicht vergebens kreist und ohne Sauerstoff wieder den weiten Weg durch den Organismus antreten muß. Die Erhöhung der Atemfrequenz und der -tiefe kann man mes­sen. Auch diese Information wird dem Schrittmacher zugeleitet.

Es gibt noch einige andere Ent­wicklungen, die den physiologi­schen Bedürfnissen auf der Spur sind. Das Schöne dabei ist, daß sich an der prinzipiellen einfachen Tech­nik der Schrittmachereinpflanzung nichts ändert. Heute hält eir. Schrittmacher üblicherweise etwa sechs Jahre. Dabei spielen indivi­duelle Bedürfnisse mit: wird er nicht immer gebraucht, weil das Herz über genügend eigene Schläge ver­fügt, schaltet er sich aus. Er rastet, braucht sehr wenig Strom für sich selbst und hält länger.

Auch der Schrittmacher kann Menschen nicht unsterblich ma­chen. Ein Herz, das keinen Sauer­stoff für sich selbst bekommt, des­sen verkalkte Herzkranzgefäße verstopft sind oder dessen Arbeit über seine Kraft geht, bleibt ste­hen, egal wer oder was dieses Herz antreibt. Ein Herz, das einen zar­ten, schlanken Körper bedient, dessen Besitzer das seinem Herzen mit maßvoller Betätigung dankt und darauf schaut, daß seine Herzkranz­gefäße nicht zu argen Abnützungs­erscheinungen unterworfen werden und seinem Herzen auch etwas Ruhe gönnt, wird von ihm lange gut be­treut werden.

Noch kann der Schrittmacher nicht verläßlich Rhythmusstörun­gen behandeln, die als Kammerflimmern bekannt sind. Ein solches rasendes Herz kann nur durch eben­soviel Gewalt gebändigt werden -es muß geschockt werden. Die da­für notwendige Energie übersteigt die Kapazität eines gewöhnlichen Schrittmachers. Es gibt allerdings Geräte, die das können und „Defi-brillatoren" genannt werden. Sie sind doppelt so groß wie Zigaret­tenschachteln und sehr schwer. Ihre Elektroden müssen - wie zu Beginn der Schrittmacherzeit - auf das Herz aufgenäht werden. Das Gerät selbst wird in der Bauchwand verankert. Auch löst der „Defi" das Problem nicht: ein oftmals flimmerndes Herz wird in ein langsam versagendes verwandelt. Tritt so eine schwere Rhythmusstörung bei einem jun­gen Menschen auf, sollte man die Ursache mit einer Operation behe­ben oder, wenn das nicht geht, ihn mit einem neuen Herzen versorgen.

Wir träumen von einem Schritt­macher, der sich alle Optionen of­fen hält und bei wechselnder Art der Rhythmusstörung das beste Therapiekonzept anwendet, das er eingebaut hat. Voraussetzung: die genauere Erforschung unseres Körpers und die technische Durch­führbarkeit. Das wieder ist zwei­fellos mit Kosten verbunden.

Ich denke aber, daß die Entwick­lung der Steuerung von Lenkwaf­fensystemen um ein Vielfaches teu­rer ist als die Weiterentwicklung von intelligenten Schrittmacher­technologien. Und ich denke, daß eventuell freiwerdende Posten in den Armeen unserer Erde vielleicht in eine Umwidmung in weitere Po­sten für das Pflegepersonal mün­den könnten. Die letzten Sätze be­gannen allerdings mit „Wir träu­men" .Aber auch mit: „Ich denke..."

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