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Rettung am Ende von Sackgassen

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Zwiespältig ist unsere Zeit: Auf der einen Seite blendende Erfolge von Forschung und Technik, auf der anderen Wandel am Abgrund lebensbedrohender Gefahren. Brauchen wir einen Retter?

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Zwiespältig ist unsere Zeit: Auf der einen Seite blendende Erfolge von Forschung und Technik, auf der anderen Wandel am Abgrund lebensbedrohender Gefahren. Brauchen wir einen Retter?

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Der Werkelmann in der Kärntnerstraße hat sein Programm der Saison angepaßt: „Stille Nacht, Heilige Nacht" quält er aus seiner Drehorgel hervor. Ein paar Schritte weiter, im Kaufhaus, kann man dieselbe Melodie, diesmal mit Text, genießen: „Christ, der Re - etter, ist da-a ..." Niemand hört hin. Es rinnt an den lärmgewohnten Ohren ab. Außerdem: Ein Retter — in unserer Zeit?

Brauchen wir überhaupt einen

Retter? Aus welcher Gefahr? „So gut wie heute ist es uns noch nie gegangen", stellte Altkanzler Bruno Kreisky vor der letzten Wahl eindringlich fest. Na, also.

Und tatsächlich, materiell geht es uns prächtig: ein Auto auf drei Österreicher, Fernseher und Radio in fast jedem Haushalt, ebenso wie eine Waschmaschine. Statt Wasser trinken wir Bier, Limonade oder Wein. Jeder hat doch alles. Wir merken es jetzt, wo sich jeder fragt: „Was soll ich heuer wieder schenken?"

Gut geht es uns aber auch, weil wir länger leben — um 25 Jahre länger als unsere Vorfahren im vorigen Jahrhundert. Pest, Pok-ken, Kinderlähmung sind ausgestorben.

• Und erst auf dem Gebiet der Bildung und Information: Welche Revolution: Gratis kommt man bis zum Doktorat, die Hochschulen sind übervölkert, mehr als die Hälfte aller jemals lebenden Forscher sind heute tätig, und was in der Welt passiert, wird uns „live" ins Haus geliefert.

Und dennoch----

Sehen Sie sich die Gesichter der Leute jetzt in den Einkaufsstraßen an. Da erkennt man, daß die Menschen mit dem Erreichten nicht glücklich sind: Mißmut, Gleichgültigkeit, Gereiztheit

überwiegen. Der Slogan „Shopping macht happy" entpuppt sich als Lüge. Mehr Information bedeutet nicht, besser informiert zu sein, mehr Freizeit und Vergnügungsmöglichkeiten bringen nicht unbedingt mehr Erholung, mehr Rüstung vermittelt uns nicht das Gefühl größerer Sicherheit, mehr Gesundheitsausgaben tragen nicht zu steigendem Wohlbefinden bei...

Stehen wir in Wahrheit nicht am Ende von Sackgassen — trotz unseres Uberflusses? Wird nicht rundherum deutlich, daß unser Fortschritt unseren Wohlstand nicht mehr vermehrt? Mehr und mehr von allem und jedem entpuppt sich als gefährliche Glücks-. attrappe. Gefährlich deswegen, weil wir diese Art von Fortschritt teuer bezahlt haben.

Wir haben nämlich, während wir uns verbissen um den Bau unseres Schlaraffenlandes bemühten, von der Substanz gelebt. Das auffälligste Signal dafür liefert uns unsere Umwelt: Verschmutzte Luft zerstört unsere Wälder und Gebäude; verschmutzte Gewässer gefährden unsere Trinkwasserversorgung und in Bhopal, Indien, sind Tausende Menschen Opfer einer Giftkatastrophe geworden.

Verpraßt haben wir auch unsere religiöse und kulturelle Substanz. Unser Zusammenleben wird nicht mehr durch gemeinsame Vorstellungen von Gut und Böse geregelt. Moral steht im Belieben des einzelnen. Die Folgen: Videofilme, die jede Art von Brutalität und sexueller Perversion

darstellen, Würdigung eines „Künstlers", der gotteslästerliche und unappetitliche Schauspiele inszeniert, zehntausendfache Tötung ungeborener Kinder, Handel mit ihren toten Körpern — als Rohstoff für Kosmetika, Steuerhinterziehung als Gesellschaftsspiel, Bestechung, Pfusch, Schwarzfahren....

Wie lange kann eine komplexe Gesellschaft fortbestehen, in der jeder sich's richtet?

Gelitten hat aber auch unsere menschliche Substanz. Die Grundhaltung: „Alle Menschen san ma z'wider und i könnt's in d'Gosch'n hau'n", macht sich breit. Wie sollte man es sonst deuten, wenn jede dritte Ehe geschieden wird, Kinder und alte Menschen in Heime abgeschoben werden, Sexualität in flüchtigen Partnerschaften ausgelebt wird?

Schlecht steht es nicht nur um unsere Belastbarkeit im Umgang mit anderen Menschen. Auch sonst hat unsere Robustheit gelitten: Nervosität, üble Laune, Sucht sind ebenso Zeiterscheinungen wie Allergien, Streßerkrankungen und Verkehrsinvalidität.

Von der Substanz zu leben, ist sicher keine Uberlebensstrategie. Der bisherige Fortschritt gefährdet unsere Zukunft. Daher müssen wir diesen Fortschritt in Frage

stellen. Das Menschenbild, das hinter ihm steht, ist falsch. Wir laufen in die falsche Richtung, weil wir eine falsche Vorstellung von menschlichem Glück haben.

Immer mehr zu haben und zu wissen, macht nicht glücklich. Sonst wären die Reichen und Intellektuellen die zufriedensten Menschen — was offensichtlich nicht zutrifft. Daher gilt es, das Materielle zu relativieren, denn selig sind die Armen.

Obwohl wir forschen und planen wie noch nie, stehen wir dauernd vor größeren Problemen. Denn jede Lösung bringt unvorhergesehene Nebenwirkungen. Der Mensch ist eben weder allwissend, noch allmächtig — und wird es niemals sein. Mehr Bescheidenheit und Demut stünde uns gut an. Denn selig sind die Sanftmütigen, die sorgsam mit der Welt umgehen und sie liebevoll betreuen.

Die Vorstellung, Unabhängigkeit von anderen Menschen mache glücklich, erweist sich als Irrtum. Statt uns voreinander abzusichern, müssen wir Vertrauen lernen. Weil auch wir Verständnis und Verzeihung von anderen brauchen, sollten wir uns selbst um diese Haltungen bemühen, denn selig sind die Barmherzigen.

Selig sind auch die Trauernden, die sich die schreienden Unge-

rechtigkeiten unserer Zeit zu Herzen gehen lassen. Selig sind, die nach Gerechtigkeit hungern, die nicht fünf gerade sein lassen, die sich für die anderen einsetzen und die an eine Umkehr glauben.

Selig sind, die ein reines Herz haben und nicht überall mitmachen und sich's richten. Die nicht total im System verstrickt sind, sondern offen für den Anruf Gottes und für einen neuen Anfang. Selig sind auch, die Verfolgung leiden, die für ihre Uberzeugung eintreten, weil sie es ernst meinen, und die nicht nur schön reden.

Diese vor 2000 Jahren verkündete Skizze eines erfüllten Lebens ist zeitlos gültig. Jeder spürt doch, daß in der Bergpredigt Wegweiser aus unseren Sackgassen aufgestellt wären. So gesehen ist die Frage nach dem Retter äußerst aktuell. Das Menschenbild, das uns Jesus Christus vorgestellt hat, ist die Wurzel unserer Kultur. Diese wird überleben, wenn wir uns an diesem Leitbild orientieren.

Die Botschaft Christi enthält darüber hinaus die Zusicherung, daß Gott nicht nur der unbegreifliche Schöpfer und weise Gesetzgeber, sondern der erlebbare Begleiter jedes Menschen ist. Und als solcher bietet er sich auch als Retter für unsere ratlose Zeit an.

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