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Rettung für den Alten Kontinent

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Vor 40 Jahren gab der damalige US-Außenminister an der Harvard-Universität den Startschuß für den Wiederaufbau Europas: sein „Marshall Plan“ hatte Erfolg.

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Vor 40 Jahren gab der damalige US-Außenminister an der Harvard-Universität den Startschuß für den Wiederaufbau Europas: sein „Marshall Plan“ hatte Erfolg.

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Am 5. Juni 1947, also vor genau vierzig Jahren, hielt der amerikanische Außenminister George C. Marshall an der Harvard-Universität jene historische Rede, mit der er sich in den Geschichtsbüchern verewigt hat. Als Anlaß diente die jährliche „Commence- ment“ -Feier, in der die College- Studenten zum Abschluß ihrer vierjährigen Studien ihre „Bache- lor“ -Urkunden erhalten.

Bei dieser Gelegenheit zeichnet die Universität jedes Jahr auch eine Reihe hervorragender Persönlichkeiten für ihre Beiträge zu Kunst und Wissenschaft oder wegen ihrer Verdienste um die Nation mit Ehrendoktoraten aus.

Die juridische Fakultät von Harvard verlieh 1947 diese Auszeichnung dem berühmten Soldaten George C. Marshall, der als Chef des amerikanischen Generalstabes viel zum Sieg der Alliierten im 2. Weltkrieg beigetragen hatte. Marshall befand sich in bester Gesellschaft: unter den Geehrten waren auch Robert J. Oppenheimer, einer der Väter der Atombombe, der Dichter und Dramatiker Thomas Stearns Eliot sowie Marshalls Kampfgefährte General Omar Bradley.

Mit Ausnahme weniger Beamter im Außenministerium, die die Rede verfaßt hatten, und einiger besonders gut informierter Journalisten konnte niemand die Bedeutung der schicksalsschweren Worte einschätzen, die Marshall an diesem sonnigen 5. Juni unter dem Baldachin von Buchen und Hickorybäumen im Harvard Yard innerhalb weniger Minuten aussprechen sollte.

Das liberal und internationalistisch gesinnte Establishment der US-Ostküste, das sich an der wohl prestigeträchtigsten amerikanischen Universität versammelt hatte, wußte allerdings, wovon Marshall sprach, als er die europäische Wirtschaftsmisere in einfachen, aber umso eindrucksvolleren Worten schilderte.

Marshall, der sich erst wenige Tage vor der Feier entschlossen hatte, den Ehrendoktorhut entgegenzunehmen, wollte eine möglichst breite Wirkung erzielen, als er das später nach ihm benannte europaweite Wiederaufbauprogramm anregte, nach dem sich die europäischen Nationen zusammentun sollten, um gemeinsam bei den Amerikanern ihre Bedürfnisse anzumelden. Der US- Kongreß sollte dann die notwendigen Mittel bereitstellen, um die darniederliegenden europäischen Volkswirtschaften aufzurichten.

Die einflußreichen „Harvardia- ner“ — in allen Bereichen des öffentlichen Lebens der amerikanischen Nation führend vertreten — sollten Marshall zur Hand gehen und den isolationistischen Kongreß in Washington an seine historische Verantwortung erinnern.

Die Welt war allerdings auf die denkwürdige Rede kaum vorbereitet. Daher existieren weder ein Foto von Marshall am Rednerpult noch eine Tonbandaufzeichnung der Ansprache. Dies mag nach Improvisation klingen, die Rede indes nicht. Im US-Außenmini- sterium hatte man seit Wochen hektisch an einem gesamteuropäischen Wiederaufbauprogramm gearbeitet — wobei die Betonung auf „gesamt“ lag.

Seit dem strengen .Jahrhundertwinter“ 1946/47 stand fest,

daß die europäische Wirtschaft im argen lag (obwohl neuere Studien nachweisen, daß die Wirtschaftsindikatoren alle nach oben zeigten, der Winter also nur einen kleinen Einbruch im kontinuierlichen Produktionsanstieg bedeutete).

Marshall war Ende April 1947 ziemlich deprimiert von der Moskauer Außenministerkonferenz zurückgekehrt. Die Sowjets hatten keinerlei Zugeständnisse in der „Deutschen Frage“ gemacht. Sie verlangten nach wie vor hohe Reparationen vom besiegten Deutschland und wollten keine Erhöhung des deutschen Industrieniveaus. Außerdem zeigten sich die Russen weiterhin unnachgiebig in den Hauptfragen des österreichischen Vertrages, vor allem das „deutsche Eigentum“ und jugoslawische Gebietsforderungen betreffend.

In einem persönlichen Gespräch mit Marshall mahnte Josef

Stalin den Amerikaner am 15. April 1947 im Kreml zu Geduld und meinte gelassen, „die Situation ist nicht so tragisch“ . Marshall flog mit der bitteren Erkenntnis in die USA zurück, daß der sowjetische Diktator den Westen in Ruhe wiegen wolle, um durch mögliche soziale Unruhen in einem Wirtschaftschaos mit dem verlängerten Arm der europäischen kommunistischen Parteien daraus Kapital zu schlagen.

Noch auf dem Rückflug konzipierte Marshalls Berater Charles „Chip“ Bohlen eine Radioansprache, die hektische Beratungen in Gang setzte und die schließlich in der Harvard-Rede kulminierte.

Die Wieder gene sung Europas gestalte sich bedeutend langsamer als erwartet, sagte Marshall am 28. April in der erwähnten Radioansprache: „Zerfallser scheinungen machen sich bemerkbar. Während die Ärzte beraten, verschlechtert sich die Lage des Patienten.“ In dem verelendeten Zustand, in dem sich Europa befinde, könne man nicht länger auf Kompromisse mit den Sowjets setzen.

Im Mai 1947 trafen weitere Hiobsbotschaften über Hungersnöte und Wirtschaftsmisere von amerikanischen Beobachtern in Europa ein. Ende Mai übernahmen noch dazu die Kommunisten endgültig die alleinige Macht in Ungarn.

In Österreich forderte die Kommunistische Partei Österreichs eine Regierungsumbildung mit größeren kommunistischen Machtanteilen. Die „New York Times“ sprach düster von einer „zweiten revolutionären Welle“ , die über den Kontinent hinwegfege. Die Russen wollten sich „zu den Herren des Kontinents“ machen.

Im politischen Planungsstab des State Departement, des US- Außenministeriums, unter der intellektuellen Führung des brillanten Sowjetexperten George Ken- nan, wurden noch im Mai die Akzente für ein europäisches Wiederaufbauprogramm gesetzt (siehe Kasten).

Der Kern dieses Programms bestand aus der Idee, die Europäer in einem integrierten multilateralen Freihandelssystem zusammenzuschließen. Die Amerikaner würden die notwendigen Kredite zur Verfügung stellen, um das riesige Loch im europäischen Han delsbilanzdefizit mit den USA zu stopfen.

Für eine gesamteuropäische wirtschaftliche Genesung brauchte man unbedingt die deutsche Wirtschaft als traditionelles Zugpferd. Deshalb sollten die Deutschland von den Vier Mächten aufgezwungenen Restriktionen gelockert werden. Nach Marshalls Definition reichte Europa bis zum Ural — und so sollten auch die Sowjetunion und die osteuropäischen Länder am Programm teilnehmen.

„Chip“ Bohlen konzipierte dann die Harvard-Rede ganz im Sinne der Überlegungen Ken- nans; Marshall redigierte sie und trug sie dann mit geringen Veränderungen vor (siehe Kasten).

Nun wäre aber der Marshall- Plan nicht ins Rollen gekommen, hätten die führenden europäischen Politiker nicht das Kernstück des Programms entschlossen auf gegriffen: „Die formale In-

itiative muß von Europa kommen“ , argumentierte Kennan. Die Amerikaner wollten kein Programm zur Bekämpfung des Kommunismus, sondern eine Initiative zur Bekämpfung des wirtschaftlichen Desasters, „das die europäischen Gesellschaften für die Ausbeutung durch totalitäre Bewegungen anfällig macht“ .

Der britische Außenminister Ernest Bevin meinte später, das Angebot amerikanischer Hilfe sei „gleich einer Rettungsleine für untergehende Männer“ gewesen: „Es bot Hoffnung an, wo es keine mehr gab.“ Bevins Initiative brachte die europäische Antwort auf Marshalls Angebot zustande. Lord Alan Louis Charles Bullock, der britische Historiker und Biograph Bevins, meint, Bevins Aktivitäten im Juni 1947 seien dessen wichtigster Beitrag zur Geschichte seiner Zeit gewesen.

In hektischem diplomatischen Treiben traf sich Bevin Mitte Juni 1947 in Paris zunächst mit Georges Bidault, seinem französischen Amtskollegen, und Ende des Monats mit Bidault und Wjatsches- law Molotow, dem sowjetischen Außenminister.

Weil die Russen darauf bestanden, ihre Bedürfnisse den Amerikanern unabhängig vom restlichen Europa zu präsentieren, schlossen sie sich selbst von der gesamteuropäischen Planung aus. Aber die Amerikaner wollten mit ihrem Plan gerade jenen Wirtschaftsnationalismus der

Europäer überwinden, der sich in Molotows fehlendem Willen zur Zusammenarbeit ausdrückte.

Damit war die Marschroute festgelegt. Alle europäischen Nationen (22 an der Zahl) - ausgenommen die UdSSR und das faschistische Spanien - wurden für den 12. Juli 1947 nach Paris eingeladen. Dort sollten die Teilnehmerstaaten die Arbeit im „Europäischen Komitee für wirtschaftliche Zusammenarbeit“ (CEEC) aufnehmen und einen Forderungskatalog ausarbeiten, der dem amerikanischen Kongreß präsentiert werden konnte.

Der Komiteebericht wurde im Oktober fertiggestellt. Der US- Kongreß reduzierte die von den •Europäern gewünschten 29 beziehungsweise 22 Milliarden Dollar auf ein Vierjahresprogramm von 14 Milliarden Dollar und verabschiedete das „European Recovery Program - ERP“ (Europäisches Wiederaufbauprogramm) Anfang April 1948.

Der Marshall-Plan ließ den Europäern großzügige Wirtschaftshilfe zukommen und darf wohl als voller Erfolg angesehen werden. Bis 1952, dem Jahr, in dem die Marshall-Hilfe auslief, hatte sich die europäische Wirtschaft weitgehend erholt, nicht zuletzt wegen der vielseitigen Antriebsfaktoren der Marshall-Hilfe. Das ERP sicherte aber auch der amerikanischen Wirtschaft zukünftige Märkte, war also in diesem Sinn nicht nur uneigennützig angelegt.

Die Biographie

Von 1945 bis 1951 fungierte George C. Marshall für Präsident Harry S. Truman als Sondergesandter nach China (1946), Außenminister (1947/ 48) und Verteidigungsminister (1950/51). Es sind hauptsächlich diese Jahre, mit denen sich der vierte und letzte Band von Forrest C. Pogues monumentaler Marshall- Biographie beschäftigt, der soeben in den USA zur 40. Wiederkehr von Marshalls Harvard-Rede erschienen ist.

Nach 26 Jahren Arbeit an der Marshall-Biographie reiht sich Pogue somit würdig in die Reihe der amerikanischen Meisterbiographen ein. G. B.

GEORGE C. MARSHALL: STATESMAN 1945—1949 Von Forrest C.

Pogue. Viking Press, New York, Juni 1987.

Der Marshall-Plan hatte aber auch eine tragische Komponente: mit seiner Implementierung wurde Europa endgültig geteilt. Nachdem die Sowjets nicht teil- nahmen, gönnten sie die amerikanische Finanzspritze auch ihren „Verbündeten“ nicht. Die Polen und Tschechen, die für die Pariser Konferenz bereits zugesagt hatten, mußten wieder absagen. Die übrigen Sowjet-Satelliten lehnten von vornherein ab.

Die österreichische Bundesregierung unter Leopold Figl schielte zunächst — Anfang Juli 1947 — ängstlich nach Prag und Warschau, mußte man doch auch in Wien sowjetische Pressionen fürchten. Der einzige kommunistische Minister im Kabinett stimmte jedoch in der entscheidenden Regierungssitzung für eine — somit einstimmig verabschiedete — Teilnahme Österreichs in Paris. Damit wurde auch ein klares Zeichen für die politische Ausrichtung des Landes gesetzt.

Und obwohl die Sowjetunion auch in Österreich im Sommer 1947 eine massive Kampagne gegen die „imperialistische Mar- shallisierung“ Europas begann, waren die Würfel bereits gefallen. Österreich blieb somit in Paris das einzige Land unter den 16 Teilnehmerstaaten, das teilweise noch unter sowjetischer Besatzung stand.

Der Autor studiert Amerikanische Geschichte und Internationale Politik an der Harvard-Universität.

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