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Revanche für Waterloo

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Jede seit der Revolution von 1789 aufgetretene Zeitströmung von einiger Bedeutung hinterläßt das ihr zusagende und nutzbringende Bild Napoleons; oder mindestens ihren spezifischen Beitrag zu einem solchen Bild. Indem eine Zeitströmung das so zustandegekommene Bild oder Teile desselben in ihr eigenes Image montiert, möchte sie hoffen, selbst in größere Proportionen ihrer geschichtlichen Bedeutung zu geraten. Und indem sie im umgekehrten Fall ein überkommenes Bild Napoloens in moralischer, ethisch-politischer oder sonstiger Hinsicht diskriminiert, soll das so gewonnene Bild des „Korsen“, des „Unterdrückers der Freiheit der Völker“, des „Bonapartismus“ usw. beitragen, die moralische, ethische, politische und sonstige Qualität der eigenen Bewegung zu überhöhen. Es konnte nicht ausbleiben, daß in der jetzigen Ära des Neoliberalismus versucht wird, ein Bild Napoleons in den Vordergrund zu stellen, das die große und bleibende Bedeutung Napoleons als Wahrer des liberalen Erbes der Revolution von 1789 während des Transitoriums zwischen dem Terror der Jakobiner und der Unfreiheit unter dem reaktionären Königtum Ludwig XVIII. herausstreicht. Mehr noch. Es geschieht jetzt die Lokalisierung der unverlierbaren Präsenz dieses Werkes in der modernen Welt von heute und in einem Fortschreiten der Geschichte, die nach liberaler Ansicht nichts anderes ist als die Geschichte der Freiheit.

So gesehen ist es nichts Außergewöhnliches, daß eine der neuesten erzählerischen Biographien Napoleons von einem Briten stammt: Vincent Cronin, Jahrgang 1924, studierte Geschichte in Harvard und Oxford, ist an der Revue des deux mondes beteiligt und Präsidialmitglied der Royal Society of litera-ture. Vincent geht bei der Erfüllung das Auftrags, den er sich selbst er-iijs'»w9d8'9'i> >lb 9rw Ilm nsirfo? ..,

teilte, von der Tatsache aus, daß er in den bisherigen Darstellungen des Charakters Napoleons Widersprüche findet, deren Ursprünge er erkunden will und deren Aufklärung und Beseitigung die endliche Findung eines Napoleon ermöglichen soll, den er „als lebendigen, atmenden Menschen darstellen“ möchte. Dieses Experiment, das eine Mitte zwischen Psychogramm und traditioneller Geschichtsschreibung hält, ohne den seinerzeit von Emil Ludwig eingeschlagenen Weg zu gehen, wird zweifellos dem interessierten Leser, der in solchen Büchern den Niederschlag der Anekdotik und der erzählerischen Phantasie sucht, nicht enttäuschen. Es wird den Historiker, wenn er es beachtet, herausfordern. Der Politiker müßte sich nach dem eingangs Gesagten Gedanken darüber machen, warum wohl kaum zwei Jahre nach den 1969 (am Ende der Ära de Gaulle) unternommenen unzähligen Gedenkveranstaltungen und Publikationen zum 200. Geburtstag Napoleons schon eine neue Welle der auf mehr als 200.000 Titel angewachsenen Literatur zu diesem Thema auf uns zukommt.

Das, was Sozialismus und Linksliberalismus seit Generationen als

„Bonapartismus“ diskriminiert haben, exemplifiziert sich auf dem jetzigen Höhepunkt der industriellen Revolution und der Herrschaft des Industriesystems auf eine ganz unerwartete Weise. Bonapartismus erweist sich als das System einer Ordnungsmacht, die im Ubergang von der bäuerlich-gewerblichen zur industriewirtschaftlichen Gesellschaft entstanden ist. In Fortsetzung agrar-konservativer und städtischliberaler Traditionen erstrebt er einen ungefähren Machtausgleich, anstatt der nachher vom Marxismus ausgerufenen Diktatur des Proletariats. Durch eine Freisetzung der Wirtschaftskräfte sowie den Ausbau des Rechtsstaates erwies sich der Bonapartismus mehrmals imstande, das Vertrauen der von der Proletarisierung bedrohten Massen in einem derartigen Maße zu gewinnen, daß er mit den Methoden der „plebiszi-tären Demokratie“ Defizitärzustände, wie sie im Gefolge zerstörender revolutionärer Maßnahmen oder Fehlleistungen der parlamentarischen Demokratie zuweilen auftreten, korrigieren konnte.

In dem vorliegenden Buch wendet der Autor große Mühe darauf an, die bleibenden Verdienste Napoleons in folgenden Punkten herauszustellen: Gleichheit aller vor dem Gesetz, Ende der Feudalrechte und -pflichten, Unverletzlichkeit des Eigentums, Einführung der Zivilehe anstatt der sakramentalen Ehe, Gewissensfreiheit, freie Wahl der Arbeit, Ermöglichung der Ehescheidung, Geschworenengerichte usw. Vor allem: Reform des Finanz- und Steuerwesens, Trennung des Finanzministeriums vom Schatzamt, Förderung der Industrialisierung von Staats wegen, Reform des Verwaltungswesens in den Departements nach Ersetzung der revolutionären Intendanten durch Präfekten. Hundert Meilen von Paris hat ein Präfekt mehr Macht als ich, pflegte Napoleon zu sagen. Der Autor streicht vor allem die Tatsache heraus, daß Napoleon seine großen Reformwerke — nicht nur den Code Napoleon — in einem Staatsrat erarbeitet hat; in einer Körperschaft, die er präsidierte, der er aber nicht diktierte. Allen voran war er nur im Fleiß, in der Unermüdlichkeit und in der Förderung neuer Sachprobleme. 1800 war die Zahl der behandelten Sachprobleme 911, 1804 dagegen schon 3365.

Wieviel investierte der Liberalismus zu seiner Zeit in das riskante napoleonische Experiment? 1815, nach seiner Rückkehr aus Elba, fand Napoleon die Staatskassen leer. Die Banken Amsterdams, von denen einige englische Verbindungen hatten, kreditierten vom Fleck weg 100 Millionen Franc zu 7 Prozent. Gewiß, die Liberalen in Frankreich verlangten politische Garantien, aber sie zogen am Anfang der 100 Tage Napoleon den Bourbonen vor. Benjamin Constant, der Napoleon nach dessen Rückkehr aus Elba zunächst als den Mann begrüßt hatte, der von Blut trieft, der schreckenswerter und hassenswerter als Attila und Dschin-gis-Khan ist, Constant, der versprach, er werde seinen Mantel nicht nach dem Wind hängen, der große Liberale Constant folgte zuletzt der Einladung Napoleons. Er war überrascht und entzückt — und schuf die Verfassung der 100 Tage.

In den 150 Jahren, die seit dem Tode Napoleons vergangen sind, ist wohl kein Stück Papier, das seine Person betrifft, nicht mehrmals umgedreht und verschiedentlich inhaltlich gedeutet worden. Zu der reichlichen Memoirenliteratur der Zeitgenossen Napoleons kam eine uferlose Publizistik. Und dennoch ist das „endgültige Bild Napoleons“ nie gelungen. Es wird aus den eingangs angedeuteten Gründen nie gelingen und es wird vor allem aus einem Grund nicht gelingen: Napoleon selbst hat zu Lebzeiten in Millionen Worten, die er gesprochen und geschrieben hat, für ein Image gesorgt, über das kein Historiker hinwegkommt. Indem Napoleon sein eigener Public-Relations-Offlcer war, gab er keinen Befehl, keinen Erlaß, keinen Brief aus der Hand, der nicht einen Beitrag zu dem Image leistete,

das er für seine Zwecke brauchte und das' er seiner Sache und seinem Nachfolger hinterlassen wollte.

Über dieses Image zieht sich wie ein klebriger Film die Memoirenliteratur seiner Zeitgenossen, vor allem jener, die Napoleon ihr Vermögen, ihren Adel, ihren Rang und ihre gesellschaftliche Stellung verdankten; und die sich nach dem Sturz Napoleons jede, aber auch jede Niederträchtigkeit erlaubten, um ihre in der Ära Napoleon gewonnenen Besitztümer auch in der nachfolgenden Ära der Bourbonen zu erhalten. In unserer Zeit haben wir erlebt, was Nationalsozialisten, die prominente Zeugen des NS-Systems waren, über Hitler nach dessen Ende gesagt und geschrieben haben. Wer darum weiß, weiß auch, warum das tiefste Fundament der geschichtlichen Darstellung Napoleons in vieler Hinsicht fragwürdig ist und wohl auch bleiben wird, mag sich die Forschung noch so sehr um dieses Thema bemühen. Aber: Der große

liberale Historiker Benedetto Croce weist darauf hin, daß falsche Zeugnisse und Dokumente aus besonderen praktischen Interessen hergestellt werden und in dieser Hinsicht weder falsch noch wahr seien, sondern einfach Mittel wie andere, um besondere Zwecke zu erreichen. Und es sei eine der peinlichsten Empfindungen unserer Zeit, daß wir in einem „Bad ständig aufgefrischter Lügen leben“: Manifeste, Zeitungen, Bücher.

Auch jene, die die Fälschungen aufdecken, so schließt Croce, verfolgen damit ein nicht weniger praktisches Interesse. Dennoch gelte es die Fähigkeit der Kritik nicht preiszugeben oder ihre Minderung zu dulden; noch den Kult schänden zu lassen, den wir der heiligen Wahrheit schulden.

NAPOLEON. EINE BIOGRAPHIE. Von Vincent Cronin. Aus dem Englischen übersetzt. Verlag Claasen, Hamburg 1973. 631 Seiten. S 268,60.

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