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Revolution—ein Mädchen mit Herz ?

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Eine Invasion in Nikaragua wäre eine Katastrophe. Das Volk würde die Revolution verteidigen. Was aber verteidigt es: soziale Gerechtigkeit oder eine Einparteidiktatur?

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Eine Invasion in Nikaragua wäre eine Katastrophe. Das Volk würde die Revolution verteidigen. Was aber verteidigt es: soziale Gerechtigkeit oder eine Einparteidiktatur?

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Auf dem Schreibtisch • der FURCHE steht ein kleiner Panzer aus Holz, hergestellt in einer Behindertenwerkstätte von Contega im Norden von Nikaragua. Er ist ein Sinnbild für vieles: dafür, daß selbst ein armes, bedrängtes Land für die berufliche Integration Behinderter etwas tut. Dann für die Verteidigungsbereitschaft dieses Landes.

Schließlich beweist er, daß idealistische Zielsetzungen in unterschiedlicher Umgebung sehr unterschiedlich ausfallen können: Nikaragua-Freunde in Europa, die meist auch Anhänger von Gewaltlosigkeit und Kriegsspielzeugbekämpfung sind, müssen zur Kenntnis nehmen, daß in Nikaragua der Verteidigungskrieg zur höchsten Nationaltugend geworden ist.

Von drohender Invasion durch Truppen der USA oder ihrer mittelamerikanischen Verbündeten ist täglich in der Sandinistenpresse zu lesen — in gar nicht feiner Form: „Bestien“ ist ein Alltagš- wort geworden.

Im ganzen Land wurden Unterstände und Splittergräben gebaut. Rund um den Zivilflugplatz der Hauptstadt Managua ist Flak in Stellung gegangen. Schulen und Fabriksbelegschaften sind dezimiert: „Milicianos“ gehen bataillonsweise ins Grenzgebiet nach Norden und Süden, wo die Konterrevolutionäre („contras“) attackieren.

„In meiner Pfarre kommt es immer wieder zu tagelangen Kämpfen, in die einmal schon 2500 contras verwickelt waren“, berichtet Pfarrer Martinez von Jalapanahe Honduras. „Bis Juli hatten wir 195 Tote, darunter Frauen und Kinder.“

Der Direktor einer Landwirtschaftsschule bei Estelli, ein Jesuitenpater, führt uns nach Gartenbaubetrieben und Kaninchenzucht in seinem Direktionszimmer auch zwei Schränke mit zwölf Karabinern vor: „Damit verteidigen wir unsere Schule.“

Zusammenfassung dieser und ähnlicher Eindrücke: Die Politik der USA, offenbar nie wirklich auf eine Invasion, sondern auf politische Einschüchterung bedacht, hat das Volk nicht zu den contras, sondern zu ihrer eigenen Regierung getrieben. Man mißtraut ausländischer Einmischung. Ein Krieg würde zu einem unbeschreiblichen Blutbad führen, das sich kein US-Präsident leisten könnte.

Was aber verteidigen die Nikaraguaner an ihrer Revolution? Ist diese wirklich „ein Mädchen mit Herz“, wie Plakate („La revolu- ciön es una chavala on corazön“) verkünden?

Beginnen wir mit dem Positiven. Korruption gilt als weitgehend eingedämmt. Erstmals seit vielen Jahrzehnten fürchtet ein Volk seine Polizisten und Soldaten nicht. Selbst für das Experiment eines gefängnislosen Strafvollzugs fehlt nicht der Mut.

Wo immer im Land man hinkommt, werden Schulen, Gesundheitszentren, Spitäler gebaut. Im Erziehungs- und Gesundheitswesen sind auch die meisten der insgesamt 34 (24 + 10) österreichischen Entwicklungshelfer tätig, die österreichischer Entwicklungsdienst (OED) und Institut für internationale Zusammenarbeit (HZ) nach Nikaragua entsendet haben und die dort Beispielhaftes für die Bevölkerung leisten.

Die Zahl der Schüler und Studenten ist seit 1979 von 500.000 auf über eine Million gestiegen; die Zahl der Medizinstudenten hat sich verfünffacht. Die Preise der wichtigsten Medikamente werden ebenso wie die der Grundnah- rungsmittel vom Staat gestützt. Impfaktionen dämmen Seuchen ein.

In allen Gemeinden werden Straßen, Postämter, Freizeitzentren, Telefonzellen, Wasserleitungen, Kanäle errichtet. Das Genossenschaftswesen wird in vielen Bereichen (Agrarproduktion, Kreditwesen, Wohnbau, Handwerk, Konsum) sehr gefördert.

Die Agrarreform, zwischendurch ins Stocken geraten, wird weitergetrieben. Ihr Hauptmerkmal: Wer sein Land bewirtschaftet, verliert das Eigentum daran nicht. Nur brachliegende oder verpachtete Ländereien ab 500 (in schlechteren Gegenden ab 1000) Manzanas (eine Manzana sind 0,7 Hektar) werden enteignet.

Überall begegnet man den Bemühungen um Verbesserung der Grundnahrungsmittelproduktion, Diversifizierung der Exporte, Entwicklung angepaßter Technologien und neuer Energieträger, Aufforstung, Fruchtwechsel, Umweltschutz.

Natürlich ist nicht alles Gold, was auf den ersten Blick glänzt. Produktions- und Produktivitätszahlen, Export- und Importindikatoren weisen in wichtigen Bereichen nach unten. „Mißwirtschaft“ sagen die Kritiker.

Die Verteidiger verweisen auf Überschwemmungskatastrophen mit anschließender Dürre im Vorjahr, auf fallende Weltmarktpreise, Rezession und US-Boykott.

Wahr ist, daß zu allen diesen Faktoren auch noch echte Mißwirtschaft kommt — vor allem ein Bürokratismus, über den das ganze Land stöhnt.

Eine wohlwollende Erklärung: Es fehlt weniger an gutem Willen als an Fachwissen. „Viele fliehen aber auch aus der Verantwortung in Memoranden und Formulare“, sagt einer treffend.

Durch Dezentralisierung von Verwaltungsentscheidungen versucht die Regierung, sich am eigenen Schopf aus dem Morast zu ziehen. Der Morast ist in anderen Bereichen freilich noch tiefer.

Zensur engt seit Ausrufung des Ausnahmezustandes im März 1982 die freie Meinungsäußerung ein. Alle Zeitungen sind betroffen, auch Bischofsreden (aus denen selbst Bibelzitate gestrichen werden), Radio Catolica.

Nirgendwo werden die Berichte der unabhängigen Menschenrechtskommission (CPDH) abgedruckt. Diese registriert laufend Mißhandlungen im Kerker, Entführungen, selbst Folter, doch hält ihr eine zweite, von der Regierung selbst eingesetzte Menschenrechtskommission (CNPPDH) schlampige Recherche vor.

Um so schwerer wiegt, daß auch die regierungsamtliche Kommission zugibt, daß es dank Ausnahmezustand oft monatelange Anhaltungen ohne formelle Anklage, ohne Richter, ohne Schuld- oder Freispruch gibt. Das ist unbestreitbare Menschenrechtsverletzung, und zum Unterschied von Mißhandlung und Folter wohl auch System, nicht nur Exzeß.

Als Exzesse, Übergriffe werden oft Gewaltakte jugendlicher Terrorbanden („turbas“) bezeichnet, die mit Stöcken und Ketten mißliebige Bischöfe und Gläubige, auch oppositionelle Parteigänger und Gewerkschafter einschüchtern. Schwer vorstellbar, daß nicht auch dahinter schon System steckt.

Oppositionspolitikern begegnet man in ihren Zentralen in Managua, nicht in der politischen Tagesarbeit. Nikaraguaner, die für die Revolution sind, aber andere politische Wege als die Frente Sandinista le da Libraciön Nacio- nal (FSLN) vertreten, sucht man außerhalb der Diskussionsstube des Staatsrates vergebens.

Das ist der am meisten besorgniserregende Aspekt des heutigen Lebens in Nikaragua: die totale Vereinnahmung des Staates durch die Partei, die mit dem Namen des Freiheitshelden Sandino alles zudeckt und Staat und Gesellschaft, Verwaltungs- und Parteieinrichtungen in schier untrennbarer Weise durcheinandermischt.

Kein Gebäude ohne Sprayschrift „FSNL“, kein Fleckchen Platz ohne pathetisch-patriotische Parole, keine Radio- oder Fernsehsendung ohne Propagandaeinschub.

Alle politischen Strukturen sind für eine Einparteidiktatur geeignet. Aber es wäre ungerecht, zu behaupten, sie würden als solche auch bereits ausgenützt. , Könnte man an ein Volk, das nach Freiheit stöhnt, unbesorgt Waffen verteilen, die in Fabriken, Schulen, Büros, ja selbst in Wohnungen gelagert sind?

Wie weit das neue Parteiengesetz und die für 1985 verkündeten allgemeinen Wahlen einer konstruktiven Opposition wirklich eine Chance geben werden, inwieweit Marxismus in Lateinamerika mit Diktatur und Lenin, der von,vielen Bürowänden lächelt, nicht oder doch zu tun hat: Wer vermöchte das mit Sicherheit zu sagen?

Mit einiger Sicherheit sagen kann man nur, daß auch ein Nordamerikanern und Westeuropäern mißliebiges politisches, System keine gewaltsame Beseitigung rechtfertigt. Man soll die Nikaraguaner endlich ihren eigenen Weg gehen lassen! Der ihrer Nachbarn ist immer noch der weniger menschliche.

Der FURCHE-Chefredakteur bereiste kürzlich zusammen mit Rektor Josef Hollweck SVD von St. Gabriel Nikaragua. Ein Bericht über die kirchliche Situation folgt.

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