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Rezession und Kontaktschwierigkeiten

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Auch ein emotionsloser Buchhalter muß beim Kontoabschluß des Grazer „Musikprotokoll 1975“ bemerken, daß die Grazer Südostmesse der Musikproduzenten langsam, aber sicher in die roten Zahlen schlittert. 1973 noch dirigierten in Graz Penderecki, Amy, Gielen und Cerha, gastierten noch die Rundfunkorchester von Kattowitz und Stuttgart und die Pariser „Domaine musicale“, waren Ligetis „Clocks and Clouds“ uraufzuführen.

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Auch ein emotionsloser Buchhalter muß beim Kontoabschluß des Grazer „Musikprotokoll 1975“ bemerken, daß die Grazer Südostmesse der Musikproduzenten langsam, aber sicher in die roten Zahlen schlittert. 1973 noch dirigierten in Graz Penderecki, Amy, Gielen und Cerha, gastierten noch die Rundfunkorchester von Kattowitz und Stuttgart und die Pariser „Domaine musicale“, waren Ligetis „Clocks and Clouds“ uraufzuführen.

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Ohne die Rezession auf die personelle Veränderung in der „Protokollführung“ — dem Grazer Musikkritiker Dr. Peter Vujica (der unter dem Pseudonym Peter Daniel Wolfkind inzwischen literarischen Ruf erworben hat) folgte der Grazer Chordirigent und Hochschulprofessor Karl Ernst Hoffmann, der für das heurige Programm allein verantwortlich zeichnet — schieben zu wollen, muß man natürlich fragen, warum der ORF heuer keine einzige Novität eines internationalen „Großmeisters“ in Graz präsentieren konnte. Waren es in der Vergangenheit sicher mehr die persönlichen Bindungen zwischen Dallapiccola und Graz, Milhaud, Penderecki und Vujica, Ligeti und Harald Kaufmann und seine Sukzessoren, die international attraktive „Mascherln“ um das „Musikprotokoll“ banden, so sind es jetzt sicher auch Kontaktschwierigkeiten, die das Programm bescheidener machen.

Wenn eingangs das „Musikprotokoll“ mit einer Südost-Messe verglichen wurde, dann stimmt dies heuer nur noch zum Teil: eine Novitätenschau gab es nicht; die Beziehungen zum Osten wurden durch übermäßig starke Akzente auf je ein Programm mit ungarischer und jugoslawischer Gegenwartsmusik markiert, während parallel zu einem Symposion des Instituts für 'Wertungsforschung eigentlich erstmals der Horizont über das Kanaltal und Udine hinaus nach Italien erweitert wurde: Uraufführungen von Arrigo und Chiari, österreichische Erstaufführungen von Berio, Bus-sotti, Evangelisti, Maderna, Morri-cone, Nono gaben einen bescheidenen Aufschluß über gegenwärtige „Materialkrisen“.

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Richtigen Messecharakter hatte das „Musikprotokoll“ nie, Uraufführungen um jeden Preis strebte es nie an. Vielmehr bedachte es immer die Fundamente mit Retrospektiven auf „Outcasts“ wie die Wiener Schule, J. M. Hauer, Alexander von Zemlinsky, Hanns Eisler oder die Futuristen. Immerhin war davon auch heuer einiges zu spüren. Busoni, Boulez und Ligeti („Lux aeterna“) gehören heute doch schon eher ins Normalprogramm eines Musikvereins. Nur ein Jahr verspätet hat aber auch ein Charles Ives nach Graz gefunden: die „Holidays Symphony“.

Eine Handvoll Aktiva sind natürlich auch heuer zu vermelden. Friedrich Cerhas „Fasce für großes

Orchester“, 1959 noch vor Ligetis Klangfarbenmusik der „Atmosphe-res“ (Ligeti las die Entwürfe 1960 bei Cerha: „Aber du komponierst ja mein Stück!“, soll er ausgerufen haben). Ein radikales, in der Erweiterung des klanglichen Ausdrucks faszinierendes Werk, das leider im Mittelteil ein wenig „durchhängt“. In dem Grazer Schiske-Schüler Gösta Neuwirth war anhand von zwei Uraufführungen ein inspiriertes, originäres, handwerklich fundiertes sauberes Talent zu entdek-ken, das nur ein „bisserl Pflege“ braucht.

Gerade diese Pflege vermißte man als Publikum, als Presse, als ausländischer Gast, mit dem kein ORF-Mensch sprach. Die Säle waren trotz Kälteeinbruch schlecht geheizt, das open house wegen der neuen Publikumsschichten vom anderen Murufer interessant, akustisch aber so unmöglich wie der schleunigst sanierungsbedürftige Kammermusiksaal. Interview-Termine, Publikumsdiskussionen, öffentliche Proben waren nicht einmal vorgesehen.

Als „Außireißer“ konnte das „Musikprotokoll“ Heinz Holligers Basler Ensemble mit dem kabarettreifen Pianisten Jürg Wyttenbach und dem kauzigen Vinko Globokar, sowie Franco Evangelistis römische „Nuova consananza“, in der sich der Spaghetti-Western-Verdi Ennio Morricone als Trompeter versteckt, und schließlich den fulminanten Soloabend von Heinrich Schiff mit einer traumhaften Solosonate von Roman Haubenstock-Ramati begeistert feiern.

Robert Morans Sonorisierungsver-suche der Grazer Altstadt wurden von Wetter, ORF-Organisation und dem „sonnabendlichen“ Ruhebedürfnis der Grazer und ihrer Kommissionierungsbeamten (um 20.30 Uhr durfte vom Uhrturm kein leises Variationengeräusch über einen Pachelbel-Kanon erklingen) weitgehend hintertrieben.

Zu überlegen sein wird, wie man schleunigst — der „Steirische Herbst 76“ sollte schon heute in Detailplanung gehen — aus den roten Zahlen kommt: Gesundschrumpfung des Angebots, mit dem Geldüberschuß von weniger Konzerten soll höhere Qualität finanzieren, öffent-lichkeits- und Pressearbeit verdoppeln. Und endlich neue Kontakte zu den Komponisten schaffen.

Hansjörg Spies

Sein Renommee ist längst besser, als das, was er vorderhand anzubieten hat: Auf diese einfache Formel ist heuer das Programm des „s t e i-rischen herbsts“ zu bringen. Was er einst war, Schaubühne des Neuen, Probiergelände für die Ideen der Avantgarde, das ist vorerst vorbei. In der Steiermark gibt man sich allzuleicht mit Bescheidenem zufrieden. Und wenn es ums Experimentieren geht, ist man offenbar sogar bereit, sich mit dilettantischem Machwerk abzufinden. Paradebeispiel: die Uraufführung der elektronischen Oper „Carmilhan“, mit der das „open house“ im Grazer Orpheum aufwartete.

Was Helmut Eisendle, seit seinem Computerroman immerhin ein bekannter Autor, gemeinsam mit dem jugoslawischen Komponisten Janko Jezovsek und dem Regisseur und einzigen Schauspieler-Sprecher der Produktion, Franz Josef Bogner, hier zusammengebraut haben, reichte leider nicht einmal für Gehschulversuche zum Thema Avantgardetheater. Als Sujet haben sie sich zwar eine spannende Story gewählt: Wilhelm Hauffs Märchen „Die Höhle von Steenfol“, ein Märchen voll tiefer mythischer Zusammenhänge (und durchaus nicht so oberflächlich, also bloß in Gut-und-Böse-Kategorien zu sehen, wie das Dreiergespann das versucht).

Daß bei Hauff der gold- und geldgierige Fischer in seiner ganzen Verbohrtheit und Vergrübeltheit für* Gefahren kurzsichtig wrrdrund-in-seinem Wahn, die versunkenen Schätze der Camilhan heben zu müssen, ertrinkt, ist quasi nur eine, die obere Schichte dieses Märchens. Aber Eisendle, Jezovsek und Bogner haben offenbar nur diese eine Schicht wirklich gesehen. Denn sonst hätten sie es kaum für nötig befunden, Hauff „modern“ sprich: pathologisch zu deuten, das Märchen umfunktionieren zu müssen.

Eisendle stellt um der dramaturgischen Einheit Willen nur eine Person auf die Bühne: den Erzähler, der sich in dramatischen Momenten in den Fischer verwandelt, also Märchenfigur wird, und nebenbei auch die gesamte Technik, also Magnetophone und Tonbandmaterial manipuliert... Und so erzählend, rezitierend, spielend, technisch agierend wird der Fischer vorgeführt: als Produkt einer kranken Umwelt, die ihm Konsumbedürfnisse einhämmert, einen unnatürlichen Besitztrieb ständig wachhält. Der Fischer, im Netz von pathologischen Zwängen, wird dabei zum klinischen Fall.

Aber was sich Eisendle vorgestellt hat, ereignet sich auf der Bühne nur am Rande. Denn um all diese Momente voll ausspielen, für den Zuschauer durchsichtig präsentieren zu können, müßte der Darsteller, Franz Josef Bogner, eine mitreißende Persönlichkeit sein. Er ist das leider nicht. Seine Erzählung verrinnt irgendwo zwischen Langeweile und unverständlichem Gemurmel; sein Spiel erstarrt in oberflächlichen Klischees; die Bühne bleibt trotz seinem Herumgerenne im Grunde leer, un-ausgefüllt; seine Manipulation der Technik ist von einer katastrophalen Beiläufigkeit. Was einen freilich in Anbetracht der recht phantasielos zusammengebrauten Musik kaum stört: Es zischt, donnert, grollt und rauscht halt ein bißchen ... Ein Hauch von Meer. So wie Dilettanten sich elektronische Musik vorstellen. Ein trauriges Einspielergebnis für ein Festival, das einst so originell und selbstkritisch war, wie der „steirische herbst“. Sogar die Jugend hatte von „Carmilhan“ bald genug. Nicht wenige gingen kopfschüttelnd davon.

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