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Rheinmachen Tag für Tag

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Mit dem Löschwasser gelangten an die 30 Tonnen Sandoz-Pestizi-de ins Rheinwasser, darunter hochgiftige Phophorsäureester, Nervengifte. Diese blockierten im Stoffwechsel das Enzym Cholinesterase, welches im Nervensystem für den Abbau von Acetylcholin verantwortlich ist. Es kommt zu einer Ubererregung im Nervensystem. Fatale Folge für den Organismus: Tod durch Muskellähmung.

Die freigesetzten Gifte wirken bereits in minimaler Konzentration tödlich. Vom Sandoz-Gift Ethyl-Parathion (verwandt mit E 605) lagerten 25 Tonnen in der abgebrannten Werkshalle.

Im Labor wurde ermittelt, daß schon ein tausendstel Gramm dieses Gifts pro Liter Wasser die Hälfte aller Versuchsfische und Wasserflöhe tötet...

Die nach dem Sandoz-Unfall durch verschärfte Meßkontrollen von Umweltbehörden und -Schützern aufgedeckten „Einleitungsunfälle“ bei Ciba-Geigy (mindestens 600 Kilogramm vom Herbizid Atrazin), BASF (2000 Kilo vom Herbizid Dichlorphenoxy-Essigsäure),bei Hoechst (hochgerechnete 50 Kilo Chlorbenzol) und am Ende auch noch bei Bayer (eine unbekannte Menge des Desinfektionsmittels Chlormetakresol) lassen einen unangenehmen Verdacht hochkommen:

Ist die chemische Verseuchung unserer Flüsse etwa gang und gäbe? War Sandoz nur die Spitze eines Eisbergs, dessen Ausmaße in den trüben Rheinfluten nicht auszumachen sind?

Diesen Verdacht bestätigen Messungen, die lange vor Sandoz abseits aller „technischen Pannen“, abseits auch des öffentli-

chen Interesses vorgenommen worden sind.

Ulrich Oehmichen und Klaus Haberer vom ESWE-Institut für Wasserforschung und Wassertechnologie • in Wiesbaden-Schierstein, Angestellte der Stadtwerke Wiesbaden, ermittelten die Konzentrationsprofile von acht ausgewählten Unkrautvertilgungsmitteln von Oktober 1985 bis Jänner 1986.

• Herbizid Atrazin: An der Kontrollstelle flössen täglich 60 Kilogramm vorbei

• Herbizid Metazachlor: Noch mehr, rund 80 Kilo am Tag.

Als Verseucher sind, so die Studie, „punktförmige Einleiter“ zu vermuten. Im Klartext: Chemieunternehmen. Vor Basel ist Atrazin nur gering, hinter Basel hochkonzentriert feststellbar. Dazwischen liegen die Standorte von Sandoz, Ciba-Geigy und Hoffmann-La Roche.

Anderes Beispiel: Metazachlor läßt sich erst nach Ludwigshafen, dem BASF-Standort, nachweisen.

Was bei der Atrazinverseu-chung von 600 Kilo durch Ciba-Geigy zum katastrophalen und „einmaligen“ Ausnahmezustand erklärt worden ist, ist also eher der Normalfall. In einer Woche Ende 1985, das beweist die Wiesbadener Studie, leiteten die Chemiewerke soviel Atrazin in den Fluß wie in der Zeit um den 1. November 1986.

Das Universal-Insektizid Lin-dan tritt etwa an den Meßpunkten Speyer, Mainz und Oberwinter in wachsender Konzentration seit 1978 auf. Ebenfalls einen rapiden Aufschwung in der Schmutzflut erlebt Hexachlorbenzol (HCB). Die krebserregende Substanz

konnte ihren Anteil in den vergangenen acht Jahren verdreifachen.

Eindrucksvoll sind auch die Zahlen, die die Chemische Landesuntersuchungsanstalt in Offenburg erhoben hat. Für HCB wurde der gesetzlich verordnete „Grenzwert“ von 0,05 Milligramm im Kilo Fisch um so häufiger überschritten, je weiter die Tester flußabwärts gingen:

Beim Rheinkilometer 100 zwischen Schaffhausen und Basel lagen zehn Prozent der Fische über der HCB-Höchstmenge, bei Kilometer 112 schon 24 Prozent und bei Rheinfelden (Kilometer 154) schließlich 63 Prozent. Sechs Kilometer weiter überschritten sogar 77 Prozent aller untersuchten Flossenträger die festgelegte Grenzmarke.

Absolute Spitzenbelastungen wies dann aber der Stromteil in Rheinland-Pfalz auf; hier lagen Rotaugen und Brachen schon

durchschnittlich um satte 400 Prozent über dem Grenzwert.

Der renommierte Kieler Toxikologe Otmar Wassermann schätzt, daß der Rhein ein Konglomerat von 10.000 bis 50.000 Stoffen mit sich führt, allesamt eingeleitet von Industrie und Kommunen — ein infernalisches Gebräu, dessen Zusammensetzung überhaupt nicht bekannt ist.

Der Artentod kommt nicht immer mit spektakulären Krebswucherungen daher. Niemand hat den Zusammenhang zwischen Artensterben und Rheinverschmutzung bislang so klar gemacht wie der Darmstädter Hydrobiolöge Ragnar Kinzelbach. Nach seiner Dokumentation sackte die Artenzahl nördlich von Mainz (also flußabwärts) auf ein Fünftel der vorherigen Arten ab, nach Leverkusen auf ein Sechstel und nach Ludwigshafen/Mannheim gar auf ein Achtel.

Diese Untersuchung ist zehn

Jahre alt - in der Tendenz sind heute ähnliche Ergebnisse drin. So wird es auch kein Zufall sein, daß vor allem dort, wo die Großchemie sitzt und einleitet, der Artentod lauert.

Doch wäre es falsch, auf der Suche nach Verursachern den Chemieriesen die ganze Schuld in die Schuhe zu schieben.

Die über 30.000 Tonnen Pestizide, die konventionell arbeitende Landwirte Jahr für Jahr auf den Feldern versprühen, wo bleiben die? Im Boden, in den Lebensmitteln oder — wie gerade für Atrazin von den Grünen öffentlich gemacht — fast in jedem zweiten untersuchten Trinkwasserbrunnen Bayerns.

Es gibt einen Ausweg aus der Sackgasse, der auch die Flüsse pe-stizidfrei machen würde: den biologischen Landbau. Oder generell: mehr Biologie und weniger Chemie.

Auszug aus einem Beitrag in „Natur“ 1/87.

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