7066263-1992_05_13.jpg
Digital In Arbeit

Rhythmen und Klänge helfen heilen

19451960198020002020

Ob für geistig behinderte Kinder, alte Menschen oder Patienten der Psychiatrie: für die Musiktherapie gibt es in der modernen Medizin weite Einsatzbereiche. Die Entfaltung kreativer Fähigkeiten kann den Schlüssel zu neuem Leben bedeuten.

19451960198020002020

Ob für geistig behinderte Kinder, alte Menschen oder Patienten der Psychiatrie: für die Musiktherapie gibt es in der modernen Medizin weite Einsatzbereiche. Die Entfaltung kreativer Fähigkeiten kann den Schlüssel zu neuem Leben bedeuten.

Werbung
Werbung
Werbung

Daß Musik heilen kann, gehört zu den ältesten Weisheiten der Menschheit. König David, der an phasischen Depressionen gelitten haben dürfte, erfuhr durch Sauls Spiel auf dem Kinnor, der semitischen Leier, Erleichterung. Für den griechischen Philosophen Piaton vermochte die Musik den „ungeregelten Umlauf der Seele" zu ordnen und mit sich selbst „in Einklang" zu bringen. Der mittelalterlichen Antiphon „Media vita" wurde Heilkraft zugesprochen und im Kölner Konzil von 1316 verbot die Kirche sogar, diesen Choral ohne Erlaubnis des Bischofs therapeutisch anzuwenden. Bei den Naturvölkern finden wir Schamanen, Priester-Ärzte, die mit ihrer Trommel eine magische Einheit bilden und deren musikalische Heilerfolge oft jene der modernen Schulmedizin weit in den Schatten zu stellen scheinen.

Die geschichtliche wie völkerkundliche Rück- beziehungsweise Umschau gibt dem verbreiteten subjektiven Erleben und den zahlreichen einschlägigen Erfahrungen Recht: Klang kann helfen, die Gesundheit wiederherzustellen. Dieses Phänomen wissenschaftlich zu untersuchen und für die therapeutische Praxis nutzbar zu machen, ist Aufgabe einer Richtung, deren Bedeutung einen massiven Zuwachs erwarten läßt: der Musiktherapie.

Mit Klängen und Rhythmen zu heilen, findet heute in Österreich ein breites Einsatzfeld. Für behinderte Kinder zählt künstlerisches Gestalten oft zu dem Wenigen, was sie in ihrem Leben Sinn erfahren läßt. Natürlich kann ein mongoloides Kind nicht durch Musik von seiner genetischen Krankheit geheilt werden. Aber das Spiel am Instrument vermittelt Freude, ermöglicht, ein erfüllendes Ich-Erleben sowie eine differenzierte nonverbale Kommunikation. Für das Kind bedeutet dies eine Chance zur sinnerfüllten Lebensgestaltung. In die Krankheit dringt eine Dimension von Heilserfahrung: Das Kind kann sinnenhafte und kreative Fähigkeiten entfalten, die vielleicht zum Wertvollsten gehören, was es von der Natur mitbekommen hat und die ohne künst- ' lerische Stimulation brach liegen würden.

Ähnlich wie ein behindertes musizierendes Kind lächelnd sein „Ja" zum Leben zu geben scheint - zahlreiche Praxiserfahrungen bestätigen diese Metapher wörtlich -, so kann oft auch das künstlerische Spiel dem alten Kranken jene positive Akzeptanz abringen, die über Leben und Tod entscheidet. Denn oft hängt es von der Einstellung zum Leben und von der Motivation zur Daseinsgestaltung betagter Menschen ab, ob ein medizinisch möglicher Schritt von der Klinik in das eigenverantwortete Leben tatsächlich gelingt oder ob er scheitert. Der Weg vom Rekonvaleszenten zum - wenn auch altersschwachen - Gesunden führt dabei nicht selten auch über „Pauken, Zimbeln und Becken".

Am meisten kann Musiktherapie aber in der psychiatrischen Praxis aus dem Vollen schöpfen und hier ihre potenteste und differenzierteste Domäne finden. Die Behandlung psychiatrisch kranker Menschen mittels Musik ist aus der stationär-therapeutischen Landschaft Österreichs nicht mehr wegzudenken.

Frau O., psychotische Patientin an der psychiatrischen Abteilung der Landesnervenklinik Salzburg, hat nie Klavierunterricht erhalten. Ihr dilettantisches, wenngleich beeindruckendes Spiel auf dem Pianino der Anstalt vermittelt ihr aber nicht nur Freude; durch die Bedeutung, die sie ihm gibt, zeichnet sie ihre eigene Krankheitsgeschichte nach, dringt zu verdrängten Schlüsselerfahrungen in ihrem Leben vor, beginnt diese zu verarbeiten. Zusammen mit neuroleptischer (Psychopharmaka-)Behandlung kann Frau O. nach einigen Wochen mit deutlich gebessertem psychischem Zustandsbild entlassen werden.

Was im musiktherapeutischen Geschehen nun aber tatsächlich wirkt, darüber gehen die Ansichten der Fachleute auseinander. Ob bereits der Klang als solcher auf das Nerven- und Hormonsystem seinen regulierenden Einfluß ausübe oder der Musik als gestalteter Ausdruck der Psyche die heilende Kraft zukomme ist ebenso Streitpunkt wie die Frage, ob der therapeutische Effekt in der künstlerischen Selbstentfaltung oder, im Erleben von klanglicher Schönheit liegt.

Trotz der Erfolge musiktherapeutischen Arbeitens setzt die Macht der Krankheit immer wieder deutliche Grenzen und verweist medizinischtherapeutisches Handeln in den Rahmen, den Natur und menschliche Schicksalhaftigkeit setzen. Die musiktherapeutische Arbeit mit Herrn B. verlief nach dessen Suizidversuch überaus befriedigend. Fast unerträglich spannungsgeladen waren die Klänge, die Herr B. in die E-Orgel hämmerte. Unter seinen Fingern nahm der selbstzerstörerische Schmerz hörbare Gestalt an, wurde „greifbar". Herr B. schien sein psychisches Leid nach und nach geradezu wegzuspielen. In den folgenden Wochen wurde er ruhiger und befand sich auf dem Weg, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Ein halbes Jahr nach seiner Entlassung verübte Herr B. Selbstmord.

Die Grenzen menschlicher Möglichkeiten derart drastisch vor Augen geführt zu bekommen erschüttert -auch den Therapeuten. Allerdings: ausschließlich die Zeitlichkeit des Lebens beeinflussen zu können, wäre ohnedies ein zu vordergründiges Anliegen von Medizin und Therapie. Natur und Weltanschauung geben die Schranken aber auch die Ziele vor: hier biologisch-psychologische, dort ethische. Innerhalb dieser umfassenden Möglichkeiten des Heilens zu erforschen und für das Wohl des Patienten nutzbar zu machen, ist Auftrag. Qualität und Sinn des Lebens setzen die Akzente. Daß dabei Musik eine große Rolle spielen kann, ist nicht nur Ansicht der Musiktherapeuten, sondern auch zahlreicher Patienten. Für diese bedeutet das Künstlerische nicht selten den Schlüssel zu einem neuen Leben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung