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Rilke heute

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Acht Veranstaltungen: Rilke paramythisch (Beda Allemann), Rilke biographisch (Erika Mitter er), Rilke lyrisch (Erich Fried), Rilke ökonomisch (Siegfried Unseld), Rilke gesungen (Konservatorium der Stadt Wien), Rilke übersetzt (Efim Etkind), Rilke psychoanalytisch (Erich Simenauer) und Rilke diskutiert (Abschlußveranstaltung). Das Erfreuliche: in jedem Fall wurde Rilke genau genommen.

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Acht Veranstaltungen: Rilke paramythisch (Beda Allemann), Rilke biographisch (Erika Mitter er), Rilke lyrisch (Erich Fried), Rilke ökonomisch (Siegfried Unseld), Rilke gesungen (Konservatorium der Stadt Wien), Rilke übersetzt (Efim Etkind), Rilke psychoanalytisch (Erich Simenauer) und Rilke diskutiert (Abschlußveranstaltung). Das Erfreuliche: in jedem Fall wurde Rilke genau genommen.

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Peter Demetz von der Yale Uni-versity wies in der Schlußdiskussion ausdrücklich darauf hin: Alle Vortragenden dieser Rilke-Woche hatten der poetischen Sprache vertraut; sie hatten sich nicht von Ideologien und Abstraktionen leiten lassen, sondern von Rilkes eigenen Aussagen, vor allem von seinen Gedichten. Was an Positivem und Negativem über Rilke gesagt wurde, lag also nachprüfbar auf der Hand oder hatte zumindest einen Versfuß.

Beda Allemann, Professor für Germanistik in Bonn, verzichtete auf die symbolischen Methoden, die für die akademische Deutung von Rilkes Werk typisch geworden sind. Für Allemann ist Rilkes Dichtung Ausdruck der Suche nach einer neuen Mythologie als verbindlichem Mittelpunkt der poetischen Aussage. Nicht in der Regression auf abgestorbene Mythen, sondern erst in der paramythischen Paradoxie erreicht diese Suche vollendete dichterische Gestalt. Entsprechend unterschied Allemann in Rilkes Schaffen fünf Phasen der Bewältigung des paramythischen Prinzips: Der redseligen Mediokrität des Frühwerks folgte das mystische Umkreisen des Gottes im Stundenbuch; der mittlere Rilke versuchte, die mythische Qualität im sichtbar erinnerten Götterbild faßbar zu machen; die Krisenjahre brachten den Zweifel an der Anschaulichkeit des Mythischen; und im Spätwerk — in den Duineser Elegien und den Sonetten an Orpheus vor allem — gelang endlich die Verwandlung ins Unsichtbare, erreichte die paramythische Annäherung ihre komplexeste Form. So liegt die Grundsubstanz von Rilkes Spätdichtung nach Allemann in der poetischen Reflexion auf das fundamentale Spannungsfeld, in das jeder Versuch gelangen muß, die Oberfläche der Dinge hin zu einer mythischen Sinngebung zu durchbrechen. Mit der schwindenden Sichtbarkeit des Göttlichen in seinen Dichtungen erreichte Rilke immer mehr jene Mitte allen Sinns und Seins, der all seine poetische Absicht galt.

Nach dieser systematischen Werkinterpretation, die in sich so schlüssig war, daß die Frage, welche gesellschaftlichen Bedürfnisse das ihr zugrunde liegende Erkenntnisinteresse zu befriedigen imstande ist, gar nicht erst aufkam, gab Erika Mittcrer, legitimiert durch den bekannten „Briefwechsel in Gedichten“ und einen dreitägigen Aufenthalt bei Rilke in Muzot, einen persönlichen Einblick in das Leben des Dichters, wobei es ihr gelang, in knappen Erinnerungen auch den Menschen Rilke gegenwärtig zu machen. , , . ,, . ,t*;.nv

Von dem in England lebenden Dichter Erich Fried mochte der mit seinem stark politisch engagierten Werk nur oberflächlich Vertraute wohl eine Art Rilke-Beschimpfung erwarten. Statt dessen setzte sich Fried mit Rilkes Gedichten mit einer Ehrlichkeit und Intensität auseinander, die allen Anwesenden zum Erlebnis wurde. Einleitend verwies Fried auf eine demnächst in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erscheinende Kontroverse mit Prof. Egon Schwarz, der Rilke zum Präfaschisten stempelt. Laut Fried sind die zweifellos zahlreich vorhandenen präfaschistischen Stellen für das Wesentliche in Rilkes Werk ganz unwichtig. Auch dürfe man die Schönheit von Rilkes lyrischer Welt durchaus als Gegengift gegen die Unwirtlichkeit der realen verstehen. An Hand vieler Beispiele widmete sich Fried der Frage, ob Rilkes Dichtung heute noch lebendig sei. Es ist hier nicht Raum, die differenzierte Vielfalt der Antwort -r- von völliger Ablehnung einiger Gedichte, über das historische Interesse für andere hin zu höchster Wertschätzung — nach-zuvollziehen. In Ermangelung eines Soziologen unter den Vortragenden konnte man auch für Frieds theoretische Ausführungen dankbar sein. Erinnert sei an den Hinweis auf Rilkes Rücksichtnahme auf viele Tabus seiner Gesellschaft, die etwa das allzu Feierliche, das Süßüche und Schwüle vieler erotischer Aussagen

Rilkes verschuldet hat. Unter anderem auf diese Methode der schönen Verschleierung Bezug nehmend, meinte Fried, es sei sinnlos, alle Ge dichte Rilkes für modern halten zu wollen. Hingegen gab er der Überzeugung Ausdruck, daß dort, wo Rilkes Dichtung heute noch lebt, sie viel zu geben hat. Die von Beda Allemann betonte Suche nach einer mythischen Mitte zählte Fried allerdings zu den weniger lebendigen Aspekten von Rilkes Werk.

Der Leiter der Verlage Insel und Suhrkamp, Siegfried Unseld, war in die Archive des Iniselverlags gestiegen, und konnte mit authentischem Material über die nicht immer reibungslose verlegerische Betreuung von Rilkes Werk berichten und auch darüber, daß Rilke vom Ertrag seiner Bücher nie im entferntesten leben konnte.

Efim Etkind, der Leningrader Professor für vergleichende Literaturwissenschaften, der seit seiner Ausweisung aus der Sowjetunion in Paris lehrt, sprach über die Übersetzungen von Rilkegedichten ins Russische und Französische. In Rußland war es Pasternak, der Rilke aus einer sehr ähnlichen lyrischen Grundeinstellung heraus als erster verstanden hat, ja Rilke war für Pasternak zugleich Lehrer und Verbündeter. An mehreren Beispielen zeigte Etkind, daß das Wesentliche bei der Ubersetzung von Rilke-Gedichten die Übertragung der typischen Ver-dinglichung der Welt, dieser Einheitlichkeit von innerem und äußerem Raum, dieses Ineinanderdringens auch von Worten und Bildern sei. Während Pasternak und viele der ihm folgenden russischen Übersetzer vollwertige klangliche Entsprechungen für das Original fanden, ließ Etkind an den französischen Übersetzungen kein gutes Haar.

Nach einer Liederstunde mit vertonten Gedichten Rilkes sprach Erich Simenauer. Das Thema des Berliner Psychoanalytikers lautete „Rilke und die Freudsche Psychoanalyse“. Simenauer zeichnete Rilke als einen einsamen Gefangenen seiner Hemmungen, dessen tödliche Leukämie nur die Endstation seiner psychosomatischen Schwierigkeiten gewesen sei. So habe für Rilke seine Körperlichkeit eine abnorme Rolle gespielt, wenn er z. B. seinen Kopf kleiner als einen Knopf empfand oder die Oberfläche seines Körpers „voller Falten und Fallen“. Des Dichters grenzenloser Haß gegen seine Mutter, sein Schwangerschaftsneid, seine gestörte Liebesfähigkeit (die etwa auch in den Phallusgedichten zum Ausdruck kommt), all dies sind autobiographische Aspekte, die Simenauer in Rilkes Werk — wenn auch meist nur indirekt und verschlüsselt — wiederzufinden glaubt. Im Sinne der neueren Psychoanalyse interpretierte Simenauer Rilkes Dichtungen als Abwehrbewegungen gegen unbewußte Triebregungen, wobei es Rilke immer wieder gelang, mit Hilfe seiner dichterischen Kreativität eine Rekonstruktion sedner Identität herbeizuführen. Die Abschlußdiskussion brachte neben einer Rekapitulation und Präzisierung der vorangegangenen Ergebnisse literarhistorische Grundsatzfragen von Peter Demetz und von Joachim Storck (Schillerarchiv Marbach), einige kritische Anmerkungen zur bisherigen Heräus-geberpolitik und verlegerischen Klischeebildung von Rilkes Verlag. Ob dieses Rilke-Symposium eine „Taufe“ oder nur eine „Gedenkfeier“ war, wage ich nicht zu entscheiden, jedenfalls war es eine im Format durchaus angemessene Veranstaltung zum 100. Geburtstag eines der wichtigsten deutschen Dichter dieses Jahrhunderts.

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