6841662-1975_47_13.jpg
Digital In Arbeit

Rilke und Prag

19451960198020002020

Hinterher verleugnete er die Stadt, „das schwüle, schlecht gelüftete Prag“, das so gar kein „brauchbares Heimatbewußtsein“ aufkommen ließ, schämte er sich seiner frühen Gedichte und Gechichten, die „in keiner Weise den Anfang meiner Arbeit, vielmehr das höchst private Ende meiner kindlichen und jugendlichen Ratlosigkeit“ waren. Rilkes Selbstauslegungen sind ein Thema für sich, und ein sehr schwieriges. Am liebsten hätte er die 21 Jahre von der mitternächtigen Frühgeburt des 4. Dezember 1875 bis 1896, das Jahr seiner Flucht nach München, vergessen lassen. Aber mehr als er je zugegeben hat, weisen sein Leben und Werk zum Ursprung zurück, waren die Rückwirkung auf die Herausforderung von Ort und Zeit seiner Herkunft. Sieht man dieses Leben und dieses Werk als ein Ganzes an, so kann man auf den Anfang nicht verzichten.

19451960198020002020

Hinterher verleugnete er die Stadt, „das schwüle, schlecht gelüftete Prag“, das so gar kein „brauchbares Heimatbewußtsein“ aufkommen ließ, schämte er sich seiner frühen Gedichte und Gechichten, die „in keiner Weise den Anfang meiner Arbeit, vielmehr das höchst private Ende meiner kindlichen und jugendlichen Ratlosigkeit“ waren. Rilkes Selbstauslegungen sind ein Thema für sich, und ein sehr schwieriges. Am liebsten hätte er die 21 Jahre von der mitternächtigen Frühgeburt des 4. Dezember 1875 bis 1896, das Jahr seiner Flucht nach München, vergessen lassen. Aber mehr als er je zugegeben hat, weisen sein Leben und Werk zum Ursprung zurück, waren die Rückwirkung auf die Herausforderung von Ort und Zeit seiner Herkunft. Sieht man dieses Leben und dieses Werk als ein Ganzes an, so kann man auf den Anfang nicht verzichten.

Werbung
Werbung
Werbung

Prag war für ihn die Stadt seiner Kindheit, die entscheidend geblieben ist für sein Verhältnis zur Welt. Als Grundthema seines Denkens und Dichtens kehrt sie in Gedichten und Briefen immer wieder. „Und da weiß ich, daß nichts vergeht... / dazu sind die Dinge zu schwer / meine ganze Kindheit steht / immer um mich her.“ In einem späten Fragment heißt^es: „Laß dir, daß Kindheit war, dies namenlose Treue der Himmlischen nicht widerrufen vom Schicksal, / ...Denn zeitlos hält sie das Herz.“

Kindheit war ihm beides: „Innigkeit“ und , „Angst“ in einer alles Spätere übertreffenden Intensität. „Innigkeit“ bedeutete ihm das uranfängliche Einssein des Kindes mit dem, was er „Natur“ als die tragenden Kräfte des Seins nannte. Aber Innigkeit, „das innige Kindsein“ war ihm nur die andere Seite der Angst. Ein „sehr banges, verlorenes, wehrloses Kind“ mußte schon im ersten Umhertasten die Einsamkeit erfahren. Die frühen Erfahrungen legten ihn fest. Einsamkeit wurde ihm für immer zur zweiten Natur. Die Umgebung, die ihn anregte, in der allein er arbeiten konnte, erlebte er zuerst in der Abgeschiedenheit des Kinderzimmers. Dem Einsamen blieben die „Dinge“, „die Vertrauten seiner einsamen Kindheit“, zeitlebens unentbehrlicher als die Menschen. In einer der folgenreichsten, einer der wichtigsten Schöpfungen Rilkes, den Aufzeichnungen des Malte Lourids Brigge, in denen sein Malte-Ich, eine Spiegelgestalt, die Erinnerung an das Kindheitserlebnis so faszinierend wiedergibt, heißt es: „... wie man als Kind einsam war, als die Erwachsenen umhergingen, mit Dingen verflochten, die wichtig und groß schienen, weil die Großen so geschäftig aussahen und weil man von ihrem Tun nichts begriff.“ Das große Sternbild, das über der Welt Rilkes stand, war die Kindheit.

Der Vater, Josef Rilke, ein aus gekränktem Ehrgeiz freiwillig aus dem Dienst geschiedener Berufsunteroffi-zier, der es gerade noch zum bescheidenen Büroangestellten einer staatlichen Eisenbahngesellschaft gebracht hatte, zählte wenig. Entscheidend war der Einfluß der Mutter Sophie — genannt Phia — Rilke. Sie stammte aus einer Prager Patrizierfamilie und war in einem stattlichen Barockpalais in der Herrengasse aufgewachsen. Von gesellschaftlichen Wunschträumen beherrscht, schwärmte sie für den Adel und die große Welt und trug mit Vorliebe ein vornehmes Schwarz im Stile verwitweter Erzherzoginnen. Sie hatte sich einen Ersatz für das erstgeborene, früh verstorbene Töchterchen gewünscht. Bezeichnend ihre Reaktion, als es ein Knabe wurde: wenn sie ihn schon „Rene“ taufen ließ, dann auch „Maria“; wenn schon ein Knabe, dann sollte es wenigstens für die Mutter ein Mädchen sein. Sie hat ihn verwöhnt und verzärtelt, - steckte ihn1 bis zu seinem fünften Lebensjahr in 1 Mädchenkleider. Er trug lange Lokken und spielte mit Puppen. Im Buch der Bilder stilisierte Rilke die Erinnerung an dieses sonderbare Idyll von Mutter und Tochter-Sohn: „Und durch das alles gehn im kleinen Kleid, / ganz anders als die andern gehn und gingen —: / O wunderliche Zeit...“ Und dann die Selbsterkenntnis seiner eminent ) verfeinerten, durchaus feminin gearteten Gefühlskultur: „Denn meine Seele hat ein Mädchenkleid, / und auch ihr Haar ist seiden anzufühlen.“

Die Eltern trennten sich, als Rene neun Jahre alt war. Rene wurde der Mutter zugesprochen, doch versuchte der Vater auch weiterhin, den Sohn vor den ärgsten Folgen einer ins Allzuzärtliche entarteten Erziehung zu bewahren. Phias mütterlicher Ehrgeiz traf sich mit dem Wunsch des Vaters, Rene möge die Kadettenschule absolvieren und Offizier werden. Gleichzeitig hegte sie aber die geheime Hoffnung, -die sich merkwürdig genug mit ihrem Wunsch nach der bunten Uniform vertrug: den Sohn einmal als gefeierten Dichter zu sehen. Sie selbst hielt sich für schriftstellerisch begabt und veröffentlichte auch eine Aphorismensammlung Ephemeriden mit Sentenzen, wie: „Erröten ist zuweilen Pflicht“ — „Gnadenbrot ist selten nahrhaft“ — „Auch Lorbeerblätter welken“.

Die Illusionen seiner Mutter, ihr naiver Snobismus wirkten ein Leben lang nach. Von ihr stammte Rilkes Hang zum Adel, zum Leben auf Schlössern, der Wunsch nach „Edel-blut“. Der „Familienroman“ der Rilkes, genährt durch den geadelten Onkel Jaroslaw, hatte schon einige Kapitel angesetzt, ehe er von Rainer Maria weitergesponnen wurde — bis in die letzten Lebensjahre.

Rilke hat, wie am Problem seiner Herkunft, so auch am Bild der Mutter ein Leben lang „gedichtet“. Daß diese völlig vom Schein lebende Frau, die den gefeierten Dichtersohn in ihrem Alter „Du Prachtmensch“ anredete, es mit der Wahrheit nie ganz genau nahm, hat Rilke überliefert. Der mit ihm eng befreundete

Rudolf Kassner bezeugte: „Rilke war ein sehr wahrhaftiger Mensch. Seine Wahrhaftigkeit kam aber aus der Unwahrhaftigkeit der Mutter.“ Was der Sohn über sie zu sagen hatte, stand vielfach im krassen Widerspruch zueinander. Ein „vergnügungssüchtiges, erbärmliches Wesen“ nannte sie der 19jährige. Und unnachsichtig hart, schrieb der 29jäh-rige über ihren Besuch bei ihm: „Wenn ich diese verlorene, unwirkliche, mit nichts zusammenhängende Frau ... sehen muß, dann fühle ich, wie ich schon als Kind von ihr fortgestrebt habe ... dann graut mir... vor allem diesem Verzerrten und

Entstellten, daran sie sich gehängt hat, selber leer wie ein Kleid, gespenstisch und schrecklich. Und daß ich doAühr Kind bin ...“ 'Diesen unerbittlichen Briefstellen stehen andere Texte gegenüber, in denen ein leidenschaftlich zärtliches Verhältnis zwischen einer Mutter und einem Sohn geschildert wird. Das bekannteste Beispiel findet sich in der bezaubernden Malte-Episode, die voll schwärmerischer Zärtlichkeit den nächtlichen Besuch der Mutter im Ballkleid am Bett des Kindes schildert. Das Widersprüchliche in der Haltung Rilkes zu seiner Mutter charakterisiert sein gebrochenschwieriges Verhältnis zum Mitmenschen als Objekt der Liebe überhaupt: Hingabe (aus Innigkeit), Abwehr (aus Einsamkeit). „Ich bin gar kein Liebender, mich ergreift's nur von außen“, bekannte er. „In einem Gedicht, das mir gelingt, ist viel mehr Wirklichkeit als in jeder Beziehung oder Zuneigung, die ich fühle. Wo ich schaffe, bin ich wahr, und ich möchte die Kraft finden, mein Leben ganz auf diese Wahrheit zu gründen.“

*

Als zweimal gescheiterter Schüler — mißglückte Kadettenexistenz in St. Pölten und Mährisch-Weißkir-chen, Relegierung von der Linzer Handelsakademie — kehrte Rene 1892 nach Prag zurück. Die Mutter war schon früher nach Wien übersiedelt, um dem kaiserlichen Hofe näher zu sein. Nach mit Glanz bestandener Matura inskribierte der 20jährige Philosophie und dann Jus, ohne seine Neigung zur Literatur zu verleugnen. Vom Mai 1892 bis zum Herbst 1896 reichte die Prager Periode des Dichters Rene Rilke. Dieser 17- bis 21jährige setzte sich nach außen hin mit aller Energie in Szene und überschwemmte die Prager literarische Provinz förmlich mit seinen Hervorbringungen. Kurz hintereinander veröffentlichte er vier Gedichtbände, dutzendweise Skizzen, einige Novellen und Dramen. Er gab eine Zeitschrift, Wegwarten („dem Volke geschenkt“) heraus, schrieb ein Operettenlibretto mit dem lustigen Sujet „Weltuntergang“, veröffentlichte überallhin Buchbesprechungen, korrespondierte mit aller Welt und fiel berühmten Zeitgenossen sehr lästig.

In den beiden deutschen Künstlerklubs, der „Concordia“ und dem

„Verein der bildenden Künstler“, war Rene ein häufiger und begeisterter Gast, ein kleines Kunststück, weil die beiden Zirkel verfeindet waren. Gleichzeitig aber betrieb er den Plan, beide durch eine radikale Neugründung, einen „Bund moderner Phantasiekünstler“ bzw. „moderner Zopfverächter“ zu verdrängen. Daß Humor zentral zum Wesen Rilkes gehört, zeigen die im September 1896 geschriebenen Verse Krause Schnörkelgiebel spreiten ... Von seinen damals erschienen Gedichtsammlungen hat Rilke später nur die erste, 1894, unter dem Titel heben und Lieder erschienene, nicht mehr gelten lassen. Der Band besteht zur Hauptsache aus Variationen über das Thema „Mein Liebchen hat mir das Herz geraubt“. Er war der Nichte des von Ren6 hochgeschätzten tschechischen Dichters Julius Zeyer gewidmet.

In einem späteren Brief (1924) entschuldigte Rilke die fast peinliche Betriebsamkeit jener Phase mit dem ungeduldigen Wunsch, seiner „widerstrebenden Umgebung“, vor allem seiner Familie zu beweisen, daß er zum Dichter berufen war. „Es ist die einzige Zeit in meinem Leben, da ich nicht Innerhalb der Arbeit rang, sondern mit ihren dürftigen Ansätzen nach Anerkennung ausging.“ Bemerkenswert an Rilkes Prager Jahren war die Beziehungs-losigkeit zu fast allen für ihn wichtigen literarischen Vorgängen. Jahre nach den ersten Veröffentlichungen von Hofmannsthal, Schnitzler, Altenberg, George, existierte nichts davon für ihn.

Der junge Rilke lebte damals snobistisch und inszenierte sich erfolgreich. Regelmäßig erschien er mit seinem Vater oder allein auf dem Graben-Bummel, dem Schauplatz des deutsch-jüdischen Antislawismus, mit Demonstrationen der farbentragenden Studenten, die gelegentlich von den Tschechen mit Steinwürfen gestört wurden. Manchmal trat Rene als Abbe vermummt auf, oder trug biedermeierlich und gelassen eine langstielige Iris vor sich her. 25 Jahre später schrieb Kafka an Milena: „Der Mann ist verloren, wenn er auf dem Graben geht, er schändet dort sich und die Welt.“ Eine von Rilke selbst erwähnte Ratlosigkeit brachte damals allerlei Nachahmungen und Snobismen hervor, aus denen zu schließen ist, daß Rilke vieles versuchen und sich aneignen wollte, weil er selbst nicht wußte, was. So gesehen, wird man auch das Unechte der Prager Jahre in das Echteste seiner Sehnsucht nach Wahrheit einzuordnen haben. /

Zwischen den Belanglosigkeiten des ersten Gedichtbandes Leben und Lieder und dem dritten, Traumgekrönt, (1895), voll neuromantischer Empfindsamkeit, steht der Band Larenopfer 1895). Seine beträchtliche Bedeutung liegt in der Hinneigung, ja Liebe zum Slawentum, in der sich Rilkes Elternprotest zu allererst äußerte, wie später bei Kafka, Werfel, Brod. „Seine Jugend aufzuleisten“, in inneres Eigentum zu verwandeln, wie Rilke es nannte, bedeutete für ihn eigentlich, bewußt oder unbewußt, „Prag zu leisten“. Im Larenopfer schildert er „sein Prag“, ein „Auswahlbild“ seiner Vaterstadt — vor allem in der Erinnerung an ihre ruhmvolle und tragische Vergangenheit. Den Dichter rührt des „böhmischen Volkes Weise“, und so widmete er ihm das schönste Gedicht des Bandes als Ausdruck seiner Liebe. Larenopfer fand folgendes tschechisches Echo: „Wir begrüßen Herrn Rilke auf diesem Weg als den höchstberufenen Vermittler zwischen zwei einander fremd gewordenen Kulturwelten.“

Nach Prag und außer Prag hat Rilke keine Stadt mehr in Versen gefeiert. Über ihr standen die Strahlen „zweier Sonnen“, wie er den Doppelcharakter der Stadt in einer Rezension über den ihm befreundeten Maler Emil Orlik kennzeichnete. Jener „tschechischen Sonne“, die das Land liebt und begreift und eine lebensverbundene, nationale Kunst entstehen läßt, im Gegensatz zur kühlen „deutschen Sonne“, die einer „unnationalen“, einer „Mußestundenkunst“ leuchtet

Drei Jahre nach dem Larenopfer erschienen 1899 in Stuttgart Zwei Prager Geschichten. Ihre Thematik entfaltet, breiter und tiefer als es in den Gedichten möglich war, die Problematik des tschechischen Charakters, des tschechischen Nationalismus und seiner inneren Konflikte, auch im Verhältnis zu den Deutschen. Scharf umrissene Hauptgestalt ist der tschechische Student Rezek, der die radikalisierte junge Generation vertritt, welcher jedes Mittel recht ist, im Kampf um Freiheit und Zukunft des Volkes. Bemerkenswert die Worte, die er in einer bewegten Stunde äußert: „Wie ein Kind ist unser Volk. Manchmal sehe ich es ein, unser Haß gegen die Deutschen ist eigentlich gar nichts Politisches, sondern etwas — wie soll ich sagen? — etwas Menschliches. Nicht, daß wir uns mit den Deutschen in die Heimat teilen müssen, ist unser Groll, aber daß wir unter einem so erwachsenen Volk groß werden, macht uns traurig. — Wir haben unsern Anfang und unser Ende zu gleicher Zeit. Wir können nicht dauern. Das ist unsere Tragödie, nicht die Deutschen.“ Neben dem rücksichtslosen Willensmenschen' Rezek steht die rührende Gestalt des „Königs Bohusch“, ein grotesker Buckliger aus dem Volksmilieu der Kleinseite, ein verschüchterter armer Teufel, der ganz seinen Träumen von der Liebe zum Volke lebt. Als Spitzel verdächtigt, wird er von den nationalistischen Verschwörern umgebracht. Bohusch verkörpert in seiner aus der sanften Einfalt seines Gemütes kommenden Opferbereitschaft jenes Tschechentum, das Rilke liebte.

Ihm gebührt das Verdienst, „in der wüsten Existenz zwischen zwei fremden Völkern“ zum erstenmal das gemeinsame Menschliche mit tiefstem Anteil, sozusagen ganz aus der Nähe, nachgefühlt zu haben. Was ihm die zwei inhaltlich zusammenhängenden Erzählungen, die lange viel zuwenig gewürdigt wurden, bedeuteten, sagt ein Kommentar vom Frühjahr 1899. Es war auf seiner ersten Reise nach Rußland, wohin ihn Lou Andreas-Salome, jene genialische Frau, die den größten Einfluß auf ihn ausgeübt hat, begleitete. Aus Moskau schrieb Rilke damals: „Absicht dieses Buches war es, der eigenen Kindheit irgendwie näher zu kommen. Denn alle1 Kunst sehnt sich, um diesen vergangenen Garten ... beredter zu werden. Vorwand waren nur zwei kleine Geschichten. — Ein paar Worte von dem Schicksal eines Volkes ... Und in diesen fast zufällig laut gewordenen Worten scheint mir jetzt meines Buches bester Wert zu liegen. Denn alle seine Wärme kommt von dort her; und gerade, wo es tendenziös zu werden scheint, wird es weit und wissend und menschlich.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung