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Rituale des Kommunismus

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Autor und Verlag haben einen so provozierenden wie mißverständlichen Titel für eine Untersuchung gewählt, die ein heikles Terrain der Totalitarismus-forschung erschließt. „Konfessionsrituale“ — das weist auf christliche Beicht- und Bußpraktiken zurück, und tatsächlich geht Riegel von einer souveränen Literaturkenntnis der für die Durchsetzung und Ausbreitung des frühen Christentums elementar wirksamen Entsühnungspraxis und ihrer Herausbildung aus; „im Marxismus-Leninismus“ soll besagen, daß scheinbar analoge Bekenntnisrituale exemplarisch vorgeführt werden, wie sie aus den Moskauer Schauprozessen der Jahre 1936/38 und aus den Initiationsübungen bekannt sind,

denen sich Kandidaten der KP Chinas in den dreißiger Jahren und später zu unterziehen hatten.

Beim ersten Hinhören liegt Mißverstehen nahe, war es doch in den fünfziger Jahren ein wenig Mode, besonders vom angelsächsischen Denken her, das damalige Bild von Stalins Herrschaftssystem äußerlich mit dem institutionellen Aufbau der katholischen Kirche zu analogisieren (siehe Paul Blanshard: Commu-nism, Democracy and Catholic Power, London 1952). Heutzutage etwas ungewohnt. Tempora mu-tantur? Nein, nur die Irr- und Verwirrbilder ändern sich...

Die aus der Fachliteratur herausgearbeitete Entstehungsge-. schichte der christlichen Entsüh-nungs- und „Resozialisierungs“-praxis dient der Erfassung der Unterwerfungspraktiken kommunistischer Parteien und Regime, deren zwanghaft öffentlicher Charakter die gewonnene Privatheit wieder aufhebt, hinter sie wieder in die Kollektivität zurückfällt.

Damit ist zwar einem möglichen Mißverstehen von Werk urtd Intention des Autors entgegengetreten, es könnten aber andere Bedenken erhoben werden. Bietet sich nicht etwa doch eine Analogie an? Wer mit der Urform und dem Ursinn christlicher Beicht-und Bußpraxis vertraut ist und sich heute umsieht... könnte er denn nicht fragen, ob unter Kommunisten heute und morgen überhaupt noch „Säuberungen“ der vorgeführten Art zuwege zu bringen wären?

Hier bezieht Riegel in der Tota-litarismusforschung Position: Er ist der Auffassung, daß die gestern modischen Modernisierungsprojekte, die kommunistischen Regimen aufgesetzt werden (heute: die Reformansinnen an Gorbatschow), die Grenzen nicht wahrnehmen, die solchen Parteien und Regimen durch ihre Innenstruktur (als Verschwörersekten) gesetzt sind. Wandlungen, Anpassungen würden äußerlich bleiben, nicht an die Kernstruktur rühren, sie nicht auflösen. Daher der Zugang für Außenstehende über die Konfessionsrituale.

In diesem Konzept liegt das Verdienst der Untersuchung, in der allzu verknappten, streng idealtypischen Durchführung und in einer fast hermetisch-abstrakten Sprache dürften ihre Schwächen zu sehen sein, die Riegel offensichtlich in Kauf zu nehmen bereit war. Die ausführlichen Zitate aus den Protokollen des Moskauer Pseudogerichts und aus dem chinesischen Material sprechen, zum Erschaudern, für sich.

Doch die Einwände wiegen schwer: Durch die Verkürzung des Themas auf die dreißiger Jahre und durch die Konzentration

auf die übermittelten Zeugnisse der Ritualopfer eröffnen sich nicht die historischen und aktuellen Dimensionen des Geschehens und werden die individuellen Schicksale hinter den Streitschriften der Rivalen Stalins und den Aussagen vor dem Hochgericht der niedrigsten Motive nicht sichtbar.

Also: Reicht ein Entstehensstrang in die Französische Revolution zurück, wie Riegel in der abschließenden Zusammenfassung anmerkt, so ein anderer — unberücksichtigt gebliebener - in die russische Geschichte, nicht einmal bloß in die Vorgeschichte der russischen Revolutionen! Aus dem heutigen Sektenunwesen sind Zeugnisse der geschilderten Praktiken zuhauf vorhanden; man muß nicht zum islamischen Fundamentalismus schweifen.

Wie andere auch unterstellt Riegel Nikolaj Bucharin, um beim bekanntlich herausragendsten Beispiel innezuhalten, er habe hinter der Maske des Mitmachers — bei der Selbstvernichtung — die Identität desjenigen zu wahren gesucht, der sich nicht dem Diktator, sondern der Partei unterwerfe—der Partei als Weltgericht, das eines Tages ihm recht geben könne... Andrej Wyschinskij, der Generalstaatsanwalt der Sowjetunion, wußte das so zu formulieren: „Ich fordere, daß diese tollgewordenen Hunde allesamt erschossen werden!“ Doch selbst wenn die Selbstauslöschung für die Partei gelänge, zum momen-

tanen Vorteil gereicht sie jeweils bloß dem Parteiführer, in der Person Stalins einem Massenmörder, einem Megalogangster.

Hier, ist anzunehmen, macht Riegel um seiner idealtypischen Konstruktion willen eine Mystifizierung mit: Auch die beanspruchte Identität mit der Partei mag noch eine Maske, ein Behelf gewesen sein. Die Wirklichkeit ist nun einmal trivialer. Und schlim-r mer: Die Angeklagten wurden genötigt, erpreßt, einige gefoltert, das Leben ihrer Angehörigen war bedroht. Sie waren selber keine Heiligen gewesen.

Man weiß, wenn man nur will, übergenug, auch von den Folgeprozessen der vierziger und fünfziger Jahre, nicht nur in den „Volksdemokratien“, auch in Jugoslawien (Venko Markovski: Goli Otok, the Island of Death, Boulder 1984), von Mao Zedongs Liquidierung seiner Kampfgefährten, von der „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ (eben wieder durch Harrison E. Salis-bury: Der lange Marsch, Frankfurt/M. 1985), aus Kuba, Vietnam, Kambodscha und so weiter. Die hohnvollen „Rehabilitierungen“ post mortem sind ebensowenig zu umgehen. Nikolaj Bucharin und Imre Nagy sind bislang nicht „rehabilitiert“, wohl aber ist Wjat-scheslaw Molotow, wie Wyschinskij einer der Kläffer und Mitmörder Stalins, nach der Verfremdung unter Chruschtschow nun wieder Mitglied der KPdSU. Die rote Spur ist ein Strom, allerdings auch einer des Vergessens, des Zudeckens für die Drüberbeto-nierer, dort wie hier.

KONFESSIONSRITUALE IM MARXISMUS-LENINISMUS. Von Klaus Georg Riegel. Verlag Styria, Graz-Wien-Köln 1985. 248 Seiten, geb., öS 290,-.

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