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Rivalen in Europa

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Der gesamte Komplex der sogenannten Ost-West-Beziehungen, der heute mehr denn je im Mittelpunkt der internationalen Politik steht, wirft die grundsätzliche Frage des Verhältnisses zwischen Innen- und Außenpolitik auf. Genauer gesagt: der Beziehungen zwischen Staaten mit verschiedenen sozialen und politischen Systemen.

Die vereinfachende Publizistik und Propaganda des Kalten Krieges hat mit den Begriffen „Kommunistischer Block“ und „Freie Welt“ operiert. Es hatte den Anschein, als ob die Beziehungen der Staaten und Staatengruppen

zueinander fast ausschließlich ideologisch bestimmt seien. Am stärksten ausgeprägt war dies in den Vereinigten Staaten von Amerika der Fall, wo eine Zeitlang eine Art Kreuzzugsstimmung gegen alles, was auf der Welt „kommunistisch“ oder mit dem Kommunismus verwandt war, herrschte. Man weiß, wie die amerikanische Politik allmählich von der Auffassung abrückte, sie sei dazu da, den Weltgendarmen gegen die kommunistische Welt zu spielen. Henry Kissinger war in seinen Schriften aus den sechziger Jahren einer der ersten namhaften amerikanischen Historiker und Politologen, die gegen das, was er in seinem Buch „The Troubled Partnership“ die „Liturgie des kalten Krieges“ nannte, kritisch, Stellung genommen hat. Er warf dort dem,,, State-Departement . yqr, irnjaer^ nocfl * von einem ' „kommunistischen Block“ zu sprechen, nachdem es längst offenkundig geworden sei, daß China und Rußland nicht Verbündete, sondern Gegner seien. Desgleichen beruhte die gesamte Vietnam-Politik Amerikas auf der Meinung, es handle sich um eine vom „kommunistischen Block“ gelenkte Offensive, Ho Chi Minh sei eine Marionette der Chinesen — ohne zu sehen, daß es sich um einen kämpferischen Nationalismus in kommunistischem Gewand handelte, der die Einheit und Unabhängigkeit des geteilten Vietnam zum Ziele hatte und dabei sehr vorsichtig zwischen den sowjetischen und den chinesischen Freunden die eigene Unabhängigkeit zu wahren trachtete.

Im Weltmaßstab — und regional in Europa — hat sich die Unterscheidung zwischen Ideologie und Außenpolitik vor zehn Jahren zum erstenmal manifestiert, als Amerika und Großbritannien mit der Sowjetunion im Jahre 1963 in Moskau das Teststoppabkommen unterzeichneten. Es wurde in Amerika als „Waffenstillstand“ zwischen den beiden Weltmächten bezeichnet; seither haben andere Abkommen, unter denen der Atomsperrvertrag von 1970 das folgenreichste ist, das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und- der Sowjetunion weiter stabilisiert — was selbstverständlich die Rivalität zwischen den beiden Mächten nicht aus der Welt geschafft hat. Aber es wird heute besser als in früheren Jahren als eine Machtfrage erkannt, zu der die Gegensätze des Regierungssystems und der Gesellschaftsstruktur weniger den Anlaß als den Hintergrund bilden. Das kam bereits zum Ausdruck, als es die amerikanische Politik geflissentlich unterließ, sich in die Beziehungen Moskaus zu seinen kleinen Verbündeten, Ungarn und der Tschechoslowakei, einzumischen, und als die Amerikaner die Unterdrückung der Emanzipationsbewegungen in

diesen Ländern durch- die Sowjetarmee ziemlich gelassen hinnahmen. Immer mehr ist das amerikanisch-sowjetische Verhältnis ein solches der Einflußsphären geworden, und Spannungen finden nur noch in Randgebieten dieser Einflußsphären — wie im Nahen Osten und am Persischen Golf — statt. ■

Man hat angesichts dieser Entwicklung viel von der „Konvergenz“ russischer und amerikanischer Interessen, namentlich in Europa, gesprochen. Es besteht kein Zweifel, daß beiden Mächten an der Stabilisierung des Status quo in Europa gelegen ist, weil

sie dabei nichts, im Falle von Revisionen“ aber möglicherweise allerhand zu verlieren haben. Die Teilung Europas und Deutschlands bereitet weder Moskau noch Washington Schmerzen, solche könnten nur auftreten, wenn ernstlich eine Änderung im einen oder anderen Sinne vorgenommen würde. Sie wachen beide lediglich darüber, daß der Rivale nicht seinen Einfluß auf das eigene Einflußgebiet ausdehnt. Für Moskau ist es nicht unangenehm, daß die Amerikaner die Bundesrepublik im Rahmen der NATO an der Kandare halten, das heißt, sie daran hindern, eine vom amerikanischen Kommando unabhängige, vielleicht mit Kernwaffen ausgestattete Armee aufzubauen.

Den eigentlichen Wendepunkt dieser „Entideologisierung“ der ^internationalen Beziehungen bil-?d*te .einerseits clia- Verbindung der beiden kommunistischen Mächte Rußland und China, anderseits die Ausnützung dieses Gegensatzes durch die amerikanische, von Kissinger inspirierte Politik, die bei den Besuchen des Präsidenten Nixon in Peking und Moskau für alle Welt sichtbar wurde. Togliatti sagte schon Ende der fünfziger Jahre, das China Maos habe die Internationale zerstört. Zweifellos gibt es starke Unterschiede zwischen Theorie und Praxis des Marxismus-Leninismus in der Sowjetunion und in der Volksrepublik China. Wenn man aber die Akten der sich durch Jahre hin verschlechternden Beziehungen zwischen Peking und Moskau gelesen hat, gewinnt man die Überzeugung, daß es ganz konkrete, politische und interessenbedingte Gründe waren, die diesen Bruch zwischen den beiden kommunistischen Großstaaten herbeigeführt haben.

Was wir in Europa seit den Initiativen de Gaulies im Sinne einer Entspannung des West-Ost-Verhältnisses auf unserem Kontinent haben beobachten können, gehört ebenfalls in das Kapitel des Primats der Real- und Außenpolitik gegenüber den ideologischen Gesichtspunkten. Bundeskanzler Brandt konnte sowohl in der amerikanischen als auch in der französischen Entspannungspolitik den Ansatzpunkt zu einer eigenen Ostpolitik finden, und das erklärt, warum die innerdeutsche Opposition gegen diese Politik keinerlei Unterstützung bei den Westmächten dies- und jenseits des Atlantiks finden konnte. Daß die Sowjetunion ein Interesse an dieser Entspannung hat, sowohl im Hinblick auf die unheimliche Nachbarschaft Chinas als auch aus Gründen der Politik und der Wirtschaft, liegt auf der Hand. Das Militärische tritt bei dieser Entwicklung immer mehr in den Hintergrund, da keine der größeren oder kleineren Mächte daran denken kann, ihre Interessen mit Waffengewalt durchzusetzen.

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