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Rock-Missa Hüngariae

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Nach der die Christianisierung lobpreisenden historischen Rockoper „König Stephan“ von Jänos Brody und Levente Szörenyi hat das sozialistische Nachbarland nun auch seine moderne Messe. Ursprünglich sollte die „Ungarische Messe“ von Läszlö und Bela Tolcsay als Te Deum im Zuge der Gedenkfeier für die Rückeroberung Budas von den Türken im vorigen Jahr in der Krönungskirche ertönen, doch es kam anders. Uraufgeführt wurde das mit Elementen der Volksmu sik faszinierend bereicherte geistliche Werk im Rock-Rhythmus vor einigen Wochen auf der größten Budapester Freilichtbühne — und löste sogleich eine heftige Diskussion aus. Beanstandet wurde sowohl unter musikalischen wie auch unter inhaltlichen Gesichtspunkten. Allein schon die Bezeichnung der Gattung bildete einen Stein des Anstoßes.

Tatsächlich werden in dieser „Messe“ die Akzente des Sakralen etwas verschoben, es handelt sich nicht um Leidensweg und Opfergang des Erlösers, sondern viel mehr um den Weg zur Erlösung selbst. Die Komposition stellt ein musikalisches Sinnbild der Erneuerung des Lebens dar, der seelisch-geistigen Verödung der heutigen Zeit wird eine Absage erteilt, und die Energien, aus denen lebendige Uberlieferung zurück Zugewinnen ist, werden aufgezeigt. Den fragwürdig gewordenen Lebensphrasen wird die Verkündigung entgegengehalten.

Im Mittelpunkt der Messe, deren Texte von Istvän Nemeskurty stammen, steht der Mensch der Gegenwart, der Gnade empfängt und sich vor dem Angesicht des Ewigen besinnt. In einem mit dem Irdischen abrechnenden Credo bekennt sich dieser Mensch zum Glauben an den Herrn, der ihn jedoch auffordert, sein Bekenntnis im alltäglichen Leben zu sehen.

Nach tragischem Ringen mit sich selber und mit den Verlok-kungen irdischer Güter erkennt der Mensch schließlich seine Berufung. Im Akt der Wandlung äußert er die Bereitschaft, seinen Leib und sein Blut, dem Erlöser ähnlich, für den Glauben hinzugeben. Nach dieser Katharsis macht er sich auf, um durch die Liebe den Frieden in anderen Menschen zu suchen, denn nunmehr weiß er, daß „dem Universum die Einheit innewohnt“.

Wieweit eine Generation, die ohne religiöse Erziehung aufgewachsen ist und ihre Informationen über Christus durch die Rock-Musik vermittelt erhält, von solchen Inhalten angesprochen oder motiviert werden kann, ist freilich fraglich.

Andererseits beschränken sich die Jugendlichen dieser Jahrgänge häufig auf einen Musikkonsum, der zu ihrem eigenen desintegrierten Dasein beiträgt. Da werden Anstöße zu immer hemmungsloserem Abreagieren seelisch-körperlicher Spannungen in sexuellen Erlebnissen oder in gewalttätigem Geschrei vermittelt, worauf sich die aufgewühlten Gemüter in der süßlichen Berieselung beschämend sentimentaler Idiotismen wieder beruhigen können. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die ungarische Unterhaltungsindustrie wohl kaum von ihren westlichen Vorbildern.

Im Gegensatz zu dieser sozialistischen marktorientierten Volksverdummung nennt diese von staatlichen Institutionen zur Aufführung gebrachte Ungarische Messe das Übel beim Namen. Der Zuhörer wird nicht nur mit seiner Zerrissenheit und seinen Zweifeln konfrontiert, sondern auch mit deren Ursachen.

Es geht um den fehlenden Glauben, den Zerfall der Familie, die Isolation des einzelnen in den nur mehr nominell existierenden kleinen Gemeinschaften, um die voranschreitende Ichbezogenheit, auch um die schwindende Vaterlandsliebe. All diesen Komponenten steht als absoluter Maßstab gegenüber, worum im Kyrie gebetet wird: „Hilf mir, meinen Glauben zu finden.“

Die Botschaft wird durch anspruchsvolle Rockmusik vermittelt. Die Integration der Elemente der Volksmusik - deren Instrumente werden auch erfolgreich ins musikalische Gefüge eingebaut — liefert den Beweis, daß in Ungarn die Synthese zwischen Rock und Folklore sehr wohl möglich ist.

Unter den Kritikern unterschiedlicher Weltanschauungen scheint ein eigenartiges Einverständnis in bezug auf die Beurteilung dieser Messe zu herrschen. Es verblüfft, daß auch staatli-cherseits die Profanierung beanstandet wird. Eine Messe sei eine sakrale Handlung, in der dem Dogmatischen eine gebührende Stelle eingeräumt werden müsse. Genauso bemängeln manche Theologen Hinweise auf die Kirche als Institution.

Die Tatsache, daß die Aufführung eines solchen Werkes in Ungarn aus staatlichen Geldern finanziert wird—sogar die Platte ist bereits erhältlich -, ist keineswegs verwunderlich. Dies widerspiegelt jenes Streben nach Pluralismus, das die nationale Einheit festigen soll.

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