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Romantik

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Es ist noch nicht lang her, da waren die Auwälder jenseits der Donau eine Wildnis. Neben der Lagune, die den Strom wie ein zweiter Strom, nur ohne merkliches Gefälle, begleitet, gab es noch keine Strandbäder und nicht das kleinkarierte Mosaik der Weekendhäuschen auf winzigen Grundstücksparzellen.

Auf der grasigen Schneise, die von der Landstraße in den Auwald hineinführte, stand die Holzhütte, verwittert von Alter und Feuchtigkeit, der Brunnen davor war voll Laub und Moder, der Herd hatte einen offenen Rauchabzug. Es gab primitive Möbel, altertümliche Geräte, irdene Krüge und Eisenpfannen. Neben der Petroleumlampe hing das Angelzeug an der Wand. Zwischen allen Fensterscheiben hatten Spinnen ihre Netze gespannt, vom Staub zu flaumigen Matten verwoben. Auf einem Wandbrett standen die Einsiedegläser, in denen die Knaben Frösche und kleines Wassergetier hielten. So war die Hütte, die Daniel als Kind gekannt hatte. Er liebte sie als stummes Symbol dafür, daß die langen, schulfreien Sommer da waren, mit ihrer Unge-bundenheit, mit ihren Abenteuern. Hier tauchte er zurück in urzeitliche Lebensgewohnheiten, er wusch sich tagelang nicht, er kämmte sich nicht, er schlief, wenn er müde war, und aß, wenn er hungrig war. Die Tagen waren voll zweckfreier Taten, versponnener Tagträume, komplizierter Fragen und einfacher Antworten.

Dennoch, die Hütte gehörte ihm nicht, sie gehörte mehr zur Landschaft als zum Menschen, war eingewachsen in die Erde, eingebettet in die Vegetation. Sie hatte die blinde und stumme Gleichgültigkeit der Natur angenommen. Sie gehörte auch nicht der Zeit, sondern der Vergangenheit an. Und er empfand sich nicht als Kind seiner Zeit, aber noch weniger als Zugehöriger der „guten alten Zeit“. Er gehörte nirgends hin. Er liebte zwar diese Hütte, die Au, die Wildnis - auch die Poesie und die Malerei, doch er war tiefinnerlich überzeugt, daß alles, was sich erringen und bis auf Hautnähe heranziehen und besitzen ließ, der Liebe nicht wert sei. Also liebte er das Unerreichbare.

In diesem Jahr hatte er in zwei Hauptgegenständen so schlecht abgeschnitten, daß er zu Sommerende Nachprüfungen machen mußte. Freiwillig, doch ohne alle Reue, bot er den Eltern an, daheimzübleiben und zu lernen. Er bekam den Schlüssel zur Blockhütte, damit er wenigstens die Wochenenden dort verbringen könne, dazu etwas Taschengeld und gute Ratschläge. Du bist selber schuld, sagte der Vater, es soll dir eine Lehre sein, lerne fleißig! Und sein großer Bruder meinte, am besten wiederholst du die Mathematik vom ganzen Schuljahr, man muß von der Pike auf lernen. Mela sagte wie mei-

stens nichts Besonderes, sie hob die Hand, um ihm übers Haar zu streichen und sagte: Bleib gesund, Daniel. Er bog unwillig den Kopf zur Seite, so daß ihre Hand in der Luft hängen blieb.

Die Köchin blieb im Haus, um für sein leibliches Wohl zu sorgen, kaum aber war die Familie weg, packte er den Rucksack und die Schultasche und zog in die Hütte. Der Köchin war das bequem und daher auch recht.

Für ihn begann der schönste Sommer seines Lebens. Er verwilderte vollständig, wenn auch auf die ihm angeborene sanfte und verträumte Weise. Er versank stumm in der bewußtlos vor sich hin grünenden Au-wildnis. Später erschien ihm dieser zeitlos lange Sommer in der Erinnerung als Paradies. In Wahrheit verhielt es sich wie immer, wenn Versuche gemacht werden, aus einem späten Stadium in primitive Daseinsweisen zurückzuflüchten: Die Bewußtheit des Versuchs verfälschte von Anfang an alles zur Romantik. Wenn das Paradies eines ganz gewiß nicht gewesen ist, dann jenes romantisch verklärte Abbüd, das die Sehnsucht des ausgestoßenen Adam davon im Gedächtnis hergestellt hat. Aus dem Sechzehnjährigen des zwanzigsten Jahrhunderts wurde kein Waldmensch, nicht einmal ein Naturbursch, sondern eine machtlose, zeitfremde Rebellenfigur voller Auflehnung gegen die Zivüisation. Er stand nicht auf als Bahnbrecher in

die Zukunft, sondern verharrte in resignierter Hinwendung zur Vergangenheit.

Was dafür bezeichnend ist: Er betrat sein Urweltparadies nicht nackt wie Adam, nicht in Felle gehüllt wie der Frühmensch, nicht mit einem Stein in der Faust, die erst erlernen sollte, Werkzeuge und Waffen zu erfinden; er hatte den vollgepackten Rucksack auf dem Rücken, in dem sich die unentbehrlichsten Requisiten der Zivilisation befanden, und in der Hand die Schultasche mit den Lehrbüchern und Heften und einigem Lesestoff.

Die Fähre war gedrängt voll von jungen Leuten, die ähnlich, nur weit vollkommener ausgerüstet waren: mit Rucksäcken, Zelten, Kochtöpfen, Verbandzeug und Trainingsanzügen - nicht zu vergessen die Fußbälle und Handbälle. Was diese jungen Wandervögel, die sich offenbar auch für eine Weile der Romantik an die Brust zu werfen gedachten, am deutlichsten von ihm unterschied, war das Vernünftige und Programmatische ihres Unternehmens. Kennzeichnend hiefür erschien ihm, daß sie eine Fahne hatten, unter der geschart sie dahinzogen, einen blauen Wimpel, mit dem goldenen Sonnensymbol bestickt; und eine Laute, von der bunte Seidenbänder flatterten. Sie nahmen ihren Versuch zum einfachen Leben in der Natur

sichtlich nicht ganz ernst. Sie wollten „singen und fröhlich sein, immerzu“, Sport treiben und - dazu die bändergeschmückte Laute - auch der Gemütswerte nicht entbehren. Aber sie wußten genau, was sie wollten. Er hingegen fühlte sich zu seinem Unternehmen von weiß Gott welchen unklaren Erwartungen getrieben.

Er stellte sich abgesondert, mit dem Rücken zu der entschlossen fröhlichen Gruppe, neben den Fährmann unter das Bootsdach und starrte durch die Scheibe in der Holzwand stromaufwärts. Seine Unsicherheit war ihm beklemmend deutlich. Sein Unternehmen erschien ihm jetzt schon absurd, und so lange die Fähre über das Wasser glitt, hörte er nicht auf, es innerlich besessen gegen die Absichten der jugendbewegten Gruppe zu verteidigen, abzugrenzen, in Gegensatz zu stellen, ja zu rechtfertigen, als ob er irgendwem Rechenschaft schuldig sei. Schließlich brachte er seine polemisierenden Gedanken zum Schweigen, indem er sich sagte, er sei doch, zum Teufel, niemandem Rechenschaft schuldig, und diesen in Trachtenkleidung volkstümelnden, mit zünftigen Redewendungen altertümelnden Zeitgenossen schon gar nicht, zum Teufel. Er sei er. Er gehörte keiner Gruppe, Runde, Schar, Bewegung an. Es sei sein gutes Recht, ohne Programm und Idee in einer Holzhütte zu hausen und zu verwildern, weil es ihm so gefiele.

Er trödelte noch auf dem Fährboot, das bereits angelegt hatte, und ließ die muntere Schar zuerst aussteigen. Langsam ging er hinter den muskulös stampfenden Jünglingswaden und den hüpfenden Mädchenbeinen die geborstenen Steinstufen der Böschung hinauf. Als er die Landstraße erreichte, hatten sie sich bereits zu einer halbmilitanten lockeren Kolonne formiert und zogen laut singend im gleichen Schritt hinter dem flatternden Wimpel und dem auf der Laute klimpernden Anführer her, stromabwärts. Mit Befriedigung sah er die beschwingte Buntheit der Dirndlkleider und die weißen Ausschlaghemden der Burschen hinter der Biegung verschwinden, hörte die hellen, scharfen Stimmen leiser werden und verklingen.

Aber wie nach einer Blendung, die einem hinterher noch eine Weile Figurinen in der Komplementärfarbe hinter den geschlossenen Augendek-keln flimmern läßt, wurde die jäh eingetretene Menschenleere und Stille zur Belästigung und dröhnte von übertriebenen Geräuschen. Die Insekten summten wie Trommelwirbel, das Blut dröhnte in den Ohren, betäubend laut fiel der Grillenchor in der geräuschentleerten Landschaft wieder ein, und der Strom rauschte jetzt anders, dumpf und mächtig und dunkel unter ihm.

Silberweiß verflimmerten die fernen Erlen vor dem hitzeweißen Himmel. Scharf hob sich davor das weißliche Geblinker der Pappeln ab, deren wirbelnde, an den Stielen drehbare Blättchen sich in der unmerklichen Luftbewegung der aufsteigenden Wärme wie Zinnplätt-Chen regten und schwirrten und flimmerten und flimmerten... Und auf einmal glänzte das Gras so stark im Junilicht, daß alles zu weißen Flächen verschwamm. Sekundenlang empfand er eine lähmende Schwermut. Ihm war, als sei soeben das Leben selbst in seiner Buntheit und Fröhlichkeit, mit Gelächter, Gemeinschaft und Musik, an ihm vorbeigezogen und hinter der Wegbiegung verschwunden; als habe es ihn mutterseelenallein auf der Welt zurückgelassen.

Dann sah er, grell vor Bewußtheit, überreif von Farbe, satt und glühend von Leben die Mohnblumen auf dem Schotterhügel wehen, und ihre Schönheit verursachte einen scharfen, dünnen Schmerz in seiner Brust, gemischt mit der Wollust seiner Liebe zum Unerreichbaren.

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