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Rote Maulwürfe

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Das 28. Filmfestival von .Cannes konnte in diesem Jahr als voller Erfolg bezeichnet werden. Der Durchschnitt der gezeigten Filme war wesentlich besser als in den vergangenen zwei Jahren. Die Preise wurden im allgemeinen als gut verteilt anerkannt. Trotzdem es an den üblichen Skandalen mangelte, standen die 20.000 Teilnehmer aber unter einem gewissen Druck und mußten sich ständigen polizeilichen Kontrollen aussetzen. Es gehört ja schon beinahe zum guten Ton, daß internationale Großveranstaltungen mit dem Terror irgendeiner Organisation zu rechnen haben. Auch die Filmmesse machte keine Ausnahme von der Regel. Der 21jährige Jean-Luc Milan ließ zu Beginn der Vorführungen eine Bombe im Festspielhaus explodierten, attackierte kurz darauf die Villa des Flugzeugkonstrukteurs und Industriellen Dassault und rundete seine „nützliche“ Tätigkeit mit einem Feuerzauber im städtischen Casino am Schluß des Festivals ab. Bei diesem letzten Experiment hantierte er so ungeschickt, daß er selber zerfetzt wurde. Trotz der Sympathien, die er für die extreme Linke dokumentierte, kann er doch als Einzelgänger klassifiziert werden. Die dieser Richtung angehörenden Parteien, Gruppen und Zirkel hatten mit den Taten des Terroristen sicherlich nichts zu tun. Aber in jenen Kreisen wird der Mythos der Gewalt und

Revolution, so offen gepflegt, daß verworrene Jugendliche den Unterschied zwischen Theorie und Praxis übersehen. Obwohl die V. Republik bisher keine politanarchi-stischen Banden entdecken konnte, die nach dem Vorbild der Baader-Meinhof-Gruppe rücksichtslos ihre Weltverbesserungspläne mit Hilfe von Gewalt erzwingen wollen, sind doch zahlreiche Personen am Werk, um politische Ziele durch Bombenexplosionen zu erreichen.

Hier werden in erster Linie die Autonomisten auf Korsika und in der Bretagne zu nennen sein. Die Freunde einer relativen Unabhängigkeit auf der Insel der Schönheit haben am Höhepunkt des Frühlings unzählige Bomben geworfen und damit ihre Existenz höchst augenscheinlich dokumentiert. Aus der Bretagne liegen schon seit langem keine Meldungen vor, daß die Kämpfer für eine mehr oder weniger selbständige Region neuerlich zum Angriff angetreten seien. Es hat auch im Zwischenkriegs-Frankreich Autonomieforderungen gegeben, besonders im Elsaß. Aber die Anhänger solcher Lösungen müssen in das extrem rechte Lager eingestuft werden. Dagegen sind die Korsen und Bretonen, die sich zu Gewaltlösungen bekennen, vor allem im extrem linken Lager angesiedelt. Weiters kennt die V. Republik oft heftige Kundgebungen, verbunden mit Attentaten auf staatliche Gebäude, die von den Bauernorganisationen ausgelöst werden oder Kleinkaufleute des Verbandes CID-UNATI als Urheber haben. Es handelt sich dabei in erster Linie um Forderungen gewisser Berufsstände, die sich von der gegenwärtigen Gesellschaft mißverstanden fühlen und nur zu oft die Legitimität verlassen, um sich gegen den Bürgerfrieden zu verschwören. Selbstverständlich benützen extrem linke Gruppen die latente Unzufriedenheit der Bauern und Kleinkaufleute und heizen die Gemüter noch an. Es ist jedoch festzuhalten, daß derartige Rollkommandos über keine ideologische Plattform verfügen.

Sie sind nicht die einzigen, die dem liberalen Staat den Kampf angesagt haben. Weiterhin sind Anarchisten der alten Schule, Trotzkisten und Maoisten, bereit, jede Gelegenheit auszunutzen, um Streiks anzuzetteln, Schüler und Studenten auf die Barrikaden zu treiben und sonstige am Rande des Gesetzes liegende Aktionen zu inszenieren.

Untersucht man die augenblickliche Situation der offiziellen Linken in Frankreich, so muß man allerdings bekennen, daß das Konzept des politischen Terrors von ihren Anhängern selten getragen oder gefördert wird. Die extreme Linke setzt sich derzeit zum Ziel, über eine strukturierte eigene Partei zu verfügen. Die Kommunisten, zu sehr als „Faktor der Ordnung“

angesehen, besitzen nicht das Vertrauen der oft sehr jungen Leute. Seitdem die Splitterpartei PSU, die zwischen Kommunisten und Sozialisten etabliert war, den scharfprofilierten Sozialisten (aber nicht Marxisten) Michel Rocard aus dem Generalsekretariat abgewählt hat, (er gehört jetzt der Führungsspitze der SP an und wird vielfach als Kronprinz Mitterrands bezeichnet), kam es zu einer Fusion zwischen PSU und einer marxistisch-leninistischen Fraktion, die sich dem Trotzkismus verschrieben hat. Damit rutschte die PSU — ihr gehören auch 'heute noch zahlreiche aktive Katholiken an — an den äußersten linken Flügel des sozialistischen Lagers. Aber auch andere Zirkel der extremen Linken nähern sich der PSU, die vom Mythos der Affäre „Lip“ zehrt. Der hartnäckige Streik in der Uhrenfabrik Lip, mit dem Versuch, dort eine Arbeiterselbstverwaltung einzurichten, wirkte wie ein Fanal auf solche Kreise, die von einer Rätedemokratie träumen und die Selbstverwaltung der Betriebe, der Gemeinden und des Staates proklamieren. Der christliche Gewerkschaftler Charles Piaget (Obmann des Betriebsrates von Lip) gilt als ein Symbol des Kampfes der Lip-Arbeiter und nimmt eine maßgebende Stellung in der PSU ein.

Eine derartige Erweiterung der Basis kann jedoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß der Trotzkismus gespalten ist und zumindest zwei Hauptzentren aufzuweisen hat. Nachdem die kommunistische Liga Alain Krivines noch in den Zeiten der Regierung Mess-mer aufgelöst und verboten wurde, hat sich diese Richtung neuerlich als Partei konstituiert. Dennoch ist es ihr nicht gelungen, die Mehrheit der Trotzkisten zu sammeln. Nach wie vor stellt die einzige Frau, die als Kandidatin für die Präsidentschaftswahlen 1974 aufgetreten ist, Mlle. Arlette Laguiller, einen Führungs-anspruch in der trotzkistischen Bewegung. Sie gehört dem nationalen politischen Büro einer Gruppe an, die sich „Lutte ouvriere“ nennt. Die Erfolge der streitbaren Arlette mögen natürlich auch auf dem Umstand beruhen, daß sie die einzige profilierte Politikerin der extremen Linken ist, die, über die eigenen Grenzen hinausgehend, auf ein Echo unter den jungen arbeitenden Frauen rechnen kann. Sie unternahm große Anstrengungen, ihre Wochenzeitung attraktiv zu gestalten und bestimmt die Publikatoren für ein breiteres Publikum. Die kommunistische revolutionäre Liga Krivines fühlt sich durch „Lutte ouvriere“ eher bedroht und es kommt oft zu harten doktrinären Auseinandersetzungen. Alain Krivine, ebenfalls erfolgloser Präsidentschaftskandidat, proj ektiert die Herausgabe einer Tageszeitung im Herbst dieses Jahres. Wer jedoch die schwere Krise der Pariser Presse kennt, wird den Plan mit Skepsis beurteilen.

Der Maoismus vermochte lediglich in den Maitagen 1968 sein Image der Öffentlichkeit verständlich zu machen. Wie die Trotzkisten, sind auch die Maoisten in zwei Guppen gespalten. Die maoistische Partei wurde 1968 verboten. Zahlreiche Anhänger flüchteten in den Bannkreis der Wochenzeitung „l'Humarniite Rouge“ während ein ahderer Zirkel Distanz zu den ehemaligen Mitstreitern bezog. Da andere westeuropäische Länder, wie die Bundesrepublik, Italien und Belgien, zwei maoistische Bewegungen aufzuweisen haben, konnten auch die Franzosen diesem Phänomen der Spaltung nicht ausweichen. In der Tageszeitung „Liberation“, ursprünglich vom Philosophen Sartre geleitet, sammelte sich der zweite Teil der revolutionären Marxisten-Leninisten. Die Ehe zwischen den Anhängern des chinesischen Parteichefs und den linken Intellektuellen der Redaktion von „Liberation“ dauerte nicht lange. In einer Reihe von Krisen verließen die „Chinesen“, wie sie kurz genannt werden, die Freunde des ehemaligen Existen-tialistenpapstes.

Der klassische Anarchismus, wie er sich im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in Europa herauskristallisierte, vermochte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Jungrevolutionäre nicht zu begeistern. Vielfach sind es ehrwürdige Greise, welche die schwarze Fahne hochhalten und bei Gesprächen im Quartier Latin in Erwartungen von einer Abschaffung des Staates schwelgen. Nur in den letzten Monaten scheint der Junganarchismus etwas an Boden zu gewinnen. An den heftigen Diskussionen über die Malaise in der Armee und bei der Abwehr der Nuklearpolitik der Regierung nahmen Anarchisten mit relativem Erfolg teil. Aus ihren Reihen kommen die Vorkämpfer für vermehrten Umweltschutz.

Im gegenwärtigen politischen Klima, wie es Giscard d'Estaing mit bemerkenswertem Geschick begründet hat, kann man der extremen französischen Linken keine Chance einräumen, die Innenpolitik zu beeinflussen. Falls es jedoch zu ähnlichen Vorgängen wie bei Lip auch in anderen Konzernen kommen sollte, kann die extreme linke neuerlich mit einem Terraingewinn rechnen.

Von den Kommunisten nidht mehr mit jener Heftigkeit abgelehnt, wie es seilt Jahren der Fall war, mit gewissen Symphathien der zweitgrößten Gewerkschaft CFDT rechnend und im Besitz des wenn auch bescheidenen Parteiapparates der PSU, werden Trotzkisten und Maoisten vorläufig versuchen, ihre Zellen überall auszubauen und sich, wie sie selbst es nennen, als rote Maulwürfe zu betätigen.

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