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Roter langer Weg zur Emanzipation

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Die sowjetische Gesellschaft wird üblicherweise in zwei Klassen — die Arbeiter- und die Bauernklasse — und in die „Schicht der werktätigen Intelligenz“ eingeteilt. In dieser Gesellschaft nimmt die Frau einen Platz ein, der sich so leicht mit keinem ihrer Plätze in einem westlichen Land vergleichen läßt — die Frauen stellen in der UdSSR nämlich fast die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung. Angefangen von Universitätsprofessoren, Ärzten, Lehrern, Ingenieuren, bis zu Fabriksarbeitern Und sogar Bauarbeitern; man findet in all diesen Berufen einen sehr viel höheren Prozentsatz von Frauen als im Westen. Während in Westeuropa und in Amerika ein Großteil der Frauen nur bis kurz vor oder kurz nach der Ehe berufstätig ist und danach seinen Lebensinhalt in Familie und Haushalt findet, arbeitet die sowjetische Frau in ihrem Beruf meist bis zum Pensionsalter. Und die sowjetischen Frauen sind den Männern auch formaljuristisch in jeder Beziehung gleichgestellt.

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Die sowjetische Gesellschaft wird üblicherweise in zwei Klassen — die Arbeiter- und die Bauernklasse — und in die „Schicht der werktätigen Intelligenz“ eingeteilt. In dieser Gesellschaft nimmt die Frau einen Platz ein, der sich so leicht mit keinem ihrer Plätze in einem westlichen Land vergleichen läßt — die Frauen stellen in der UdSSR nämlich fast die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung. Angefangen von Universitätsprofessoren, Ärzten, Lehrern, Ingenieuren, bis zu Fabriksarbeitern Und sogar Bauarbeitern; man findet in all diesen Berufen einen sehr viel höheren Prozentsatz von Frauen als im Westen. Während in Westeuropa und in Amerika ein Großteil der Frauen nur bis kurz vor oder kurz nach der Ehe berufstätig ist und danach seinen Lebensinhalt in Familie und Haushalt findet, arbeitet die sowjetische Frau in ihrem Beruf meist bis zum Pensionsalter. Und die sowjetischen Frauen sind den Männern auch formaljuristisch in jeder Beziehung gleichgestellt.

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Es mag dem westlichen Leser — gleich welchen Geschlechts — nicht so unbedingt wünschenswert erscheinen, daß eine Frau neben Famn lie und Haushalt noch ihr ganzes Leben im Beruf arbeitet. Doch abgesehen von der Tatsache, daß Frauenarbeit in Rußland (wie auch im Westen) eine ökonomische Notwendigkeit darstellt, steht die Frau durch ihre Teilnahme am Produktionsprozeß in einem sehr viel engeren Kontakt zur Gesellschaft mit all ihren großen und kleinen Problemen als im Westen, wo die Frau hauptsächlich indirekt — als Konsument und durch die Reklameindustrie — mit der Gesellschaft, verbunden ist. Die russische Frau, zum Beispiel eine einfache Arbeiterin, erkennt hingegen die Probleme und Schwierigkeiten, die ihr Leben mit sich bringt, durch den ständigen Kontakt mit ihren Arbeitskollegen beiderlei Geschlechts viel leichter als allgemeine gesellschaftliche Probleme und nicht als ihr individuelles Glück oder Unglück. Persönliches Mißgeschick transformiert sich deshalb bei ihr sehr viel weniger in Ehehader, Magengeschwüre oder Neurosen als in westlichen Ländern. Im Gegenteil — die ungeheure Belastung, welche die Hungerjahre der Revolution und des Bürgerkrieges, die beiden ersten Fünfjahrespläne und natürlich der zweite Weltkrieg für das russische Volk, und in erster Linie für die Frauen, mit sich brachten, schwächte die russische Frau nicht, sondern stärkte sie.

Die russische Frau ist kräftig und gutmütig, gefühlvoll und meistens etwas rundlich. Die russischen Männer hingegen sind eher Träumer, neigen nicht selten zu Trunksucht und zeigen wenig Familiensinn und Verantwortungsbewußtsein. Die Fähigkeit zum Haushalten und Sparen ist aber bei beiden nicht sehr stark entwickelt.

Der hohe Prozentsatz von Frauen mit abgeschlossenem Hochschulstudium und dessen Anwendung und ständige Erweiterung in der beruflichen Tätigkeit hat allgemein ein hohes durchschnittliches Intelligenzniveau zur Folge. Die dadurch bedingte schnelle Auffassungsgabe und

Fähigkeit zur Abstraktion bewirken generell einen viel weiteren Gesichtskreis und machen die russische Frau zu einem Partner, der sich nicht nur für Mode und Diätkost interessiert. Wie alle russischen Werktätigen, arbeiten die Frauen 42 Stunden in der Woche, haben Anrecht auf drei Wochen Mindest-urlaub (meist sind es vier Wochen), das Pensionsalter beträgt 55 Jahre (für Männer 60 Jahre). Der Schwangerschaftsurlaub beträgt vier Monate bei voller Lohnfortzahlung, die Frauen haben das Recht auf ein Jahr Karenzzeit. Mütter, deren Kinder erkranken, dürfen bei voller Lohnfortzahlung bis zu sieben Tagen der Arbeit fernbleiben, ohne

Lohnfortzahlung auch länger, je nach Dauer der Krankheit des Kindes, die vom behandelnden Arzt bestätigt wird. Abtreibung ist in der Sowjetunion gesetzlich gestattet und kostenlos.

Die Bedingungen, unter denen die russischen Frauen arbeiten, scheinen formal denen im Westen zu entsprechen, doch die Wirklichkeit ist mit den gesetzlichen Formen sehr viel weniger identisch als im Westen; mit anderen Worten: es wird unter den gleichen formalen Bedingungen sehr viel weniger gearbeitet als bei uns. Frauen in Intelligenzberufen zum Beispiel arbeiten zwar offiziell 42 Stunden pro Woche, haben aber einen oder manchmal sogar zwei sogenannte „Bibliothekstage“, an denen sie sich der Familie widmen oder auch sich weiterbilden können. In den unzähligen wissenschaftlichen Forschungsinstituten, in denen natürlich auch sehr viele Frauen arbeiten, gibt es überhaupt keine feste Arbeitszeit, die Angestellten arbeiten an ihren Projekten je nach den Umständen und teilen sich ihre Zeit selbst ein. Eine große Rolle im sowjetischen Arbeitsalltag spielt natürlich der Plan, der, je nachdem, monatlich, bis Quartalsende oder bis zum Jahresende zu erfüllen ist. Gegen Ende der jeweiligen Planperiode herrscht deshalb in allen sowjetischen Betrieben hektische Aktivität, während in den übrigen Wochen und Monaten die Arbeit sehr geruhsam und für den westlichen Betrachter geradezu achaisch uneffektiv verläuft. Diese gemütliche Atmosphäre ist aber nur für die direkt Beteiligten angenehm und vorteilhaft, Außenstehende, die etwa von einer Verkäuferin oder im Frisiersalon bedient werden wollen, profitieren von ihr jedenfalls nicht, sie werden häufig im Interesse der guten Atmosphäre mit abweisender Nichtachtung behandelt.

Die Arbeitsnormen sind, verglichen etwa mit dem Leistungsdruck, unter dem im Westen gearbeitet wird, sehr niedrig und können ohne jede Schwierigkeit erfüllt oder übererfüllt werden. Der Plan wird meist nicht zufällig, sondern absichtlich übererfüllt, indem beispielsweise ein

Betrieb die „sozialistische Verpflichtung“ übernimmt, den Plan zu 101 Prozent zu erfüllen. Für Übererfüllung gibt es Prämien, die eine wichtige Zubuße zu den ziemlich niedrigen Gehältern (120 bis 160 Rubel) darstellen.

So angenehm und vorteilhaft manche Aspekte der sowjetischen Planwirtschaft also sind — in den Dienstleistungsbetrieben, auf die ja in besonders hohem Maße die Frauen angewiesen sind, wirken sie sich eher negativ aus. Das ewige Schlangenstehen, das alle einkaufenden Frauen täglich zu ertragen haben, ist kein russischer Volksbrauch, wie viele Ausländer glauben, sondern eine direkte Folge der ineffektiv-geruhsamen Arbeitsatmosphäre, in der die Angestellten der Geschäfte ihren Plan erfüllen — oder auch „übererfüllen“. Zwar werden in der letzten Zeit immer mehr Selbstbedienungsläden eröffnet, aber auch dort passiert es nicht selten, daß sich die Kassierinnen minutenlang über Urlaubspläne oder Kinderkrankheiten unterhalten, während die Schlange der Wartenden immer größer wird. Supermar-kets blieben in der Sowjetunion bis jetzt unbekannt. In den Kaufläden wird kein Brot verkauft, das gibt es in der Bäckerei, zwei Kilometer weiter. Schuhbänder kauft man bei armenischen Schuhputzern, die meist in der Nähe der großen Bahnhöfe zu finden sind, Waschpulver und Toilettenpapier erhält man in den großen Kaufhäusern im Zentrum der

Stadt. Das Warenangebot ist zwar immer reichlich, doch unterliegt es großen Schwankungen. So sind bestimmte Käse- oder Wurstsorten wochenlang vorhanden, verschwinden aber manchmal auch wochenlang aus unerklärlichen Gründen. Qualitativ hochstehende Waren, wie indischer Tee, Schinken oder Orangen, werden, falls vorhanden, in unglaublich großen Mengen eingekauft — weshalb sie denn auch sehr rasch wieder verschwinden. Russen kaufen selten weniger als ein Kilogramm Wurst oder fünf Kilo Orangen (wer weiß, vielleicht gibt es morgen keine mehr).

Die Folge sind natürlich zentnerschwere Einkaufstaschen. Die „russische Weite“, in Verbindung mit der sowjetischen Planwirtschaft, hat zur Folge, daß ein Einkauf, der in einer westlichen Stadt höchstens eine halbe Stunde dauert, in Moskau zu einer stundenlangen, oft ermüdenden, abenteuerlichen Reise, unterbrochen von wiederholtem Schlangenstehen, wird. In den riesigen neuen Vierteln, die überall rund um Moskau entstehen und ihren Bewohnern komfortable Ein- bis Dreizimmerwohnungen bieten, ist es meist ganz schlecht bestellt mit Geschäften und deshalb ziehen es viele arbeitende Frauen vor, im Zentrum einzukaufen, das allerdings überlaufen ist und deshalb um so längeres Schlangenstehen mit sich bringt. Mit den schweren Einkaufstaschen treten sie dann abends die Heimreise an, steigen von der überfüllten Metro in überfüllte Autobusse um, und wenn sie daheim ankommen, finden sie die Omelette aus zerplatzten Milchtüten und zerquetschten Eiern nicht selten bereits fertig in der Tasche. Überhaupt ruft alles, was mit Einkaufen zusammenhängt, bei den russischen Frauen meist Stöhnen hervor: Pelzmützen gibt es nur im Sommer, Büstenhalter aber sind das ganze Jahr „Defizit“.

Die physische und nervliche Mehrbelastung, welche diese Eigenheiten des sowjetischen Alltags mit sich bringen, lasten hauptsächlich auf den Frauen und natürlich besonders auf den berufstätigen. Eine Folge dieser Überlastung (und der in vielen Fällen immer noch schlechten Wohnbedingungen) ist die beunruhigend niedrige Geburtenrate in fast allen Gebieten des europäischen Teiles der Sowjetunion. Die durchschnittliche Geburtenrate der Sowjetunion entspricht zwar den europäischen Zahlen, doch wird sie nur durch den Kinderreichtum der kaukasischen und asiatischen Sowjetrepubliken auf diesem Niveau gehalten. Im vergangenen, wie auch im neuen Fünfjahresplan wurde und wird besonderes Gewicht auf die Ankurbelung der Konsumgüterindustrie und die allgemeine Hebung des materiellen Wohlstandes der Bevölkerung gelegt. Die Fortschritte, die im Wohnungsbau und in der Versorgung mit Kleidung und Nahrungsmitteln in den letzten Jahren erzielt wurden, sind unübersehbar. Kinderkrippen und Ganztagsschulen sind zwar viel zahlreicher als im Westen vorhanden, doch ist ihre Zahl dennoch unzureichend und sie sind in der Regel überfüllt. Vieles ist geplant, doch bis zur wahren, nicht nur formalen Verwirklichung der Emanzipation der russischen Frau ist es noch immer ein ziemlich langer Weg.

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