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Roter Neokolonialismus

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Die Selbstverbrennung des litauischen katholischen Studenten Roman Kalanta war nicht die Ursache, sondern nur der Funke, der die Flammen eines Volksaufstandes in Kaunas vor kurzem entzündet hat. Am Tag des Begräbnisses zogen hunderte Kommilitonen des Opfers durch die Straßen und skandierten lautstark: „Freiheit für Litauen!“ Sie bewarfen die ausgerückte Miliz mit Steinen. Feuer wurden entfacht und ein Polizist getötet. Jugendliche wurden verhaftet. Die Kräfte der Miliz reichten nicht aus; die Rote Armee mußte ausrücken/ um die Ordnung gewaltsam wiederherzustellen.

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Die Selbstverbrennung des litauischen katholischen Studenten Roman Kalanta war nicht die Ursache, sondern nur der Funke, der die Flammen eines Volksaufstandes in Kaunas vor kurzem entzündet hat. Am Tag des Begräbnisses zogen hunderte Kommilitonen des Opfers durch die Straßen und skandierten lautstark: „Freiheit für Litauen!“ Sie bewarfen die ausgerückte Miliz mit Steinen. Feuer wurden entfacht und ein Polizist getötet. Jugendliche wurden verhaftet. Die Kräfte der Miliz reichten nicht aus; die Rote Armee mußte ausrücken/ um die Ordnung gewaltsam wiederherzustellen.

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Seit den Unruhen in Nowotscher-kask vor zehn Jahren sind Unruhen dieser Größenordnung in der Sowjetunion nicht mehr vorgekommen. Damals dauerten sie vier Monate, von Juni bis Oktober 1962. Wirtschaftliche Schwierigkeiten waren der Anlaß, diesmal aber war es die Sehnsucht nach nationaler und religiöser Freiheit! In Nowotscher-kask wollten Armee- und Milizformationen nicht auf die Arbeiter schießen und es mußte die KGB ausrücken.

Die Litauer leiden unter einer nachgerade historischen Freiheitsallergie, da sie von 1795 bis 1915 unter zentralistischer russischer Zarenherrschaft leben mußten. Während des ersten Weltkriegs war Litauen dann bis 1918 von deutschen Truppen besetzt. Danach folgten 20 Jahre Freiheit bis zum 15. Juni 1940, ah welchem Tage die Sowjetinvasion erfolgte. Auch Lettland und Estland kamen unter russische Herrschaft. Zwischen 1940 und 1959 „verschwand“ — laut Sowjetzensus — eine Million Litauer. Im Juni 1940 wurden noch 3,258.000 Litauer registriert, 1959 nur noch 2,713.000. Bei einer normalen Zuwachsrate hätten mindestens 3,800.000 Litauer zur fraglichen Zeit im Lande leben müssen. Wer kann sagen, wieviele deportiert und liquidiert wurden! Moskau wollte damals alle Balten russi-fizieren. Gewisse „Fortschritte“ wurden denn auch dabei erzielt: 1939 lebten nur 93.000 Russen in Litauen, 1959 waren es schon mehr ' als 278.000.

Die zehn katholischen Bischöfe erlitten ein Märtyrerschicksal: der Erzbischof und ein weiterer Bischof wurden 1940 von den Deutschen deportiert, einen Bischof haben Sowjetsoldaten 1947 erschossen, drei Bischöfe wurden von den Russen deportiert, einer flüchtete ins Ausland. In der Stalinära wurden 300.000 Litauer getötet und deportiert. Der ersten Sowjetokkupation und dem Kriege müssen ungefähr 700.000 Litauer zum Opfer gefallen sein.

Unter Chruschtschow durften 35.000 Litauer, meist alte und kranke Personen, aus der Verbannung zurückkehren. 90 Prozent der Stalinopfer aber liegen in den Massengräbern Kasachstans und Sibiriens.

Kaunas war immer ein neuralgischer Punkt der Sowjetunion. 1919 wurde hier die selbständige litauische Regierung ins Leben gerufen, weil Wilna von der Roten Armee besetzt war. In den Augen russischer Chauvinisten war es ein unerträglicher Zustand, daß 84 Prozent der Bevölkerung von Kaunas aus Litauern bestanden, 6 Prozent aus

Polen und nur 10 Prozent aus Russen. In Wilna lebten immerhin 25 Prozent Russen und 43 Prozent Litauer.

Auf dem 22. Parteikongreß warf der Erste Sekretär der Litauischen KP, A. Snechkus, der katholischen Kirche vor, daß sie die Litauer aufhetze. Die Resistance war tatsächlich immer stark und brauchte nicht erst von Großbritannien, Rom und den Vereinigten Staaten angeheizt zu werden. Berias und General Se-rows KGB-Funktionäre regierten nicht mit Samthandschuhen. Leninismus und „Personenkult“ waren rote Tücher, die für konstante Erregung im Untergrund sorgten. Auch die zwangsweise Kollektivisierung erhitzte die litauischen Gemüter aufs äußerste und die Bauern leisteten heftigen Widerstand.

In den vergangenen zwei Jahren litten die Litauer neuerlich unter schweren politischen Repressalien. Viele wanderten ins Gefängnis. Im Oktober des Jahres 1971 wurde schließlich eine Petition mit 3000 Unterschriften eingereicht, in welcher die freie Religionsausübung verlangt wurde. 17.000 litauische Katholiken wandten sich sodann, im März des Jahres 1972, mit einer Petition an die UNO und baten um Intervention gegen die religiösen Verfolgungen. Noch niemals wagten es soviele Bürger der UdSSR, ein für das Ausland bestimmtes Protestschreiben zu unterzeichnen.

Die „Leninistische Nationalitätenpolitik“ ist heute, im 50. Jubiläumsjahr der UdSSR, zur Farce geworden. Seit den Unruhen in Georgien im Jahre 1956 war die Spannung noch nie so groß wie derzeit in Litauen, dessen Bürger vom sowjetischen Neokolonialismus mehr als genug haben. Kalantas lodernde Leiche war hiefür ein Flammenzeichen.

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